Moral, Missbrauch und Grenzen im Abstimmungskampf

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Der Tages-Anzeiger deckte auf, dass die Agentur, die für Economiesuisse die Anti-Abzockerinitiative-Plakate gestaltet hat, Studierende anstellte, um unter falschem Namen Kommentare auf News-Portalen zu schreiben. War das ein Ausrutscher? Werden Abstimmungskampagnen mit immer härteren Bandagen geführt? Wo liegen überhaupt die Grenzen bei Abstimmungskampagnen?
„O tempora, o mores“ – Was für Zeiten, was für Sitten! So beklagte Cicero vor über zweitausend Jahre den Verfall der Sitten zu Beginn seiner Reden gegen Catilina. Die Klage über die schwindende Moral in der Politik ist vermutlich so alt wie die Politik selber.
Der Stil und der Ton und die Methoden in Abstimmungskampagnen und Wahlkämpfen war vermutlich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einiges härter als heute. Denn rekrutiert die Economiesuisse Studierende als Leserbriefschreiber, um eine Meinung durchzusetzen. In den 1930er Jahren operierten Schlägertrupps mit Fäusten statt mit Argumenten gegen Andersdenkende. So gesehen – und auch im internationalen Vergleich – sind schweizerische Abstimmungskampagnen ziemlich harmlos.
Kampagne ist ein militärischer Begriff und wurde im Deutschen in der Bedeutung von Feldzug aus dem Französischen übernommen. Jede Kriegsführung – wie der chinesische General Sunzi in seinem Buch „Die Kunst des Krieges“ formuliert – gründet auf Täuschung. Die Manipulation ist also schon im Wesen der Kampagne angelegt.
Wo aber sind die Grenzen? Was ist noch vertretbar und wo werden ethische und moralische Prinzipien verletzt?

Wenn Max Weber zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterscheidet, sind Campaigner sicher eher unter letzteren zu finden. Der Zweck heiligt in einer Kampagne oft die Mittel. Campaigner sind – allen gängigen Vorurteilen zum Trotz – in der Regel ÜberzeugungstäterInnen. Und wenn sie keine sind, werden sie im Verlauf der Kampagne dazu. Die erste Tat eines Campaigners ist immer sich selbst zu überzeugen. Im Wahlkampf verliebt man sich letztlich immer ein wenig in seinen Kandidierenden. Und weil man glaubt, dass im Krieg und in der Liebe – und Kampagnen sind letztlich beides zugleich – alles erlaubt sei, geht ein Campaigner zuweilen zu weit.
Politik ist keine exakte Wissenschaft, sondern ein Wettbewerb der Ideen, Philosophien und Ideologien und sie ist auch eine Vertretung von Interessen. Wer sich für die MieterInnen einsetzt wird eine andere Politik vertreten, als wer sich für die GrundeigentümerInnen starkt macht. Welche Politik ist letztlich richtig? Das ist immer auch eine Frage der Perspektive.

Für mich ist die Grenze dann überschritten, wenn aus der Interpretation eine Lüge wird. Es gibt immer Situationen in Kampagnen, wo man die Wahrheit in seinem Sinne interpretiert. Übertreiben, zuspitzen, weglassen, das gehört zum Grundmetier. Wenn zum Beispiel die Gegner des Familienartikels behaupten, der Artikel löse immense Kosten aus, dann ist das zwar nicht unmittelbar wahr, weil es letztlich in der Kompetenz der Kantone und Gemeinden liegt, wie sie den Artikel umsetzen. Aber ein bedarfsgerechter Ausbau der Kinderbetreuung ist natürlich nicht gratis zu haben. Mit den weinenden Staatskindern der SVP habe ich also in erster Linie ein politisches Problem und kein moralisches.

Die Grenze klar überschritten hat aber die SVP beispielsweise als sie einst im Kanton Zürich im Kantonsrat für die Abschaffung der AHV- und IV-Beihilfen stimmte und dann im Abstimmungskampf (SP und Grüne hatten das Referendum ergriffen) Inserate schaltete mit dem Inhalt „Das haben wir den Linken und Netten zu verdanken: Abschaffung der AHV- und IV-Beihilfen.“ Denn das ist auch beim grösstmöglichen Interpretationsspielraum einfach schlicht gelogen.
Die zweite klare Grenze ist das Privatleben von Menschen und die persönliche Verunglimpfung. Negative Campaigning ist zwar sehr verpönt – aber leider ziemlich wirksam. Wer einen Menschen mit Dreck bewirft, kann leider damit rechnen, dass ein bisschen was hängen bleibt, selbst wenn es völlig zu Unrecht passiert. Grundsätzlich bin ich auch ziemlich froh, dass wir in einem Land leben, in dem das Privatleben der Leute noch ein Tabu ist. Selbst wenn einer ein Heuchler und ein bigotter Kerl ist, so würde ich es nicht ausnützen, wenn ich wüsste, dass er eine Affäre hat. Die Entwicklung, dass man aus Politikern und Politikerinnen Heilige machen will, ist mir eh suspekt.

Zurück zum Ausgangspunkt den bezahlten Studierenden der Economiesuisse. Es ist ein Trauerspiel. Und zwar auch, weil sie offensichtlich glaubten, sie fänden keine Leute, die aus echter Überzeugung einen Leserbrief schreiben würden. Das lässt vermuten, dass die Kampagnenleitung selber nicht ganz überzeugt von der Sache war. Das deutliche Resultat an der Urne zeigte zudem – und das ist letztlich beruhigend – das auch ein erfolgreichen Manipulationsversuch kaum Wirkung gezeigt hätte.

Dieser Artikel erschien in der April-Ausgabe der Zeitschrift Wendekreis.