Rote Gedanken: 100 Prozent

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Ich bin eingesprungen  für Andrea Sprecher bei den «Roten Gedanken» im P.S. 

Die Occupy-Bewegung prägte den Slogan „Wir sind die 99 Prozent“. Guter Slogan, wenig Wirkung. Kein Wunder – wer will schon zu den 99 Prozent gehören?

Viel beliebter sind da 100 Prozent: Ich treffe ständig Leute, die mit keiner Partei zufrieden sind. Sie wollen lieber eine eigene, neue Partei gründen.  Eine richtig liberale Partei oder eine richtig linke Partei, eine richtig linksliberale Partei oder einfach sonst eine richtig andere Partei. Nur – an der Parteienvielfalt mangelt es nun nicht gerade. Versteht mich nicht falsch – mein politisches Vorbild ist nicht Nordkorea, wie Politgeograph Michael Hermann einem Teil der Sozialdemokraten andichtet. Vielfalt ist gut. Soll jeder eine neue Partei gründen, der will. Was mich aber stört, ist diese Vorstellung von 100 Prozent Übereinstimmung.

Ich bin überzeugte Sozialdemokratin. Aber ich bin gar nicht überzeugt, dass meine Partei immer Recht hat.  Aber – man wird auch nicht Fan von einem anderen Fussballklub, nur weil der eigene Verein mal schlecht spielt.

Eine Partei lebt immer auch von der Vielfalt, der unterschiedlichen Meinungen und Biographien ihrer Mitglieder. Und da muss man es eben aushalten können, wenn man aufs Dach kriegt, sei es inhaltlich oder persönlich. Ich bin der SP beigetreten, als ich der Ansicht war, sie sei in einer lausigen Verfassung. Aber ich war der Überzeugung, dass ich nicht mehr motzen darf, wenn ich nicht bereit bin, selber etwas beizutragen. Aus diesem Grund bin ich nach wie vor für den Beitritt zur EU. Die Grundidee ist gut, die Ausführung lässt zu wünschen übrig. Aber wenn wir etwas daran ändern wollen, müssen wir bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.

Ich war im Gegensatz zur SP gegen das sogenannte konstruktive Referendum. Das konstruktive Referendum erlaubt es dem Volk, eine parlamentarische Vorlage differenziert zu ändern. Das klingt auf dem Papier gut, in der Praxis schwächt es das Parlament und damit die Demokratie. Das Parlament funktioniert in einem Mehrparteiensystem meistens so, dass bei einer parlamentarischen Vorlage die einen ganz unglücklich und die anderen halbunglücklich sind. Denn keine Fraktion hat alleine die Mehrheit und muss für eine Mehrheit mit einer oder mehreren Fraktionen den Kompromiss finden. Und dann für sich die Abwägung treffen, ob man mit dem Kompromiss leben kann.  100 Prozent gibt es da selten. Demokratie ist eben nicht die Tyrannei der Mehrheit, sie ist auch die Pflege der Institutionen, der Verfassung, des Rechtstaats (dazu gäbe es auch einiges zu sagen, aber für den Moment ist es genug der Sonntagspredigt) und des Ausgleichs.

Parteien sind keine Sekten. Wer mehr als ein Mitglied hat, wird niemals auf eine totale Übereinstimmung kommen. Auf Smartvote erreiche ich nicht mal bei mir selbst 100 Prozent. Also liebe Leute, die ihr glaubt, es gäbe für euch keine Partei oder ihr müsstet eine neue Partei gründen: Geht in die Parteien und ändert, was euch stört – wie es die Juso treffend formuliert hat.  Oder lasst es sein. Aber dann hört auf zu motzen.