Gedanken zur Woche: Herz aus Stein

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Erschienen im P.S.

Ich weiss nicht genau, wann und in welchem Zusammenhang der Kampfbegriff «Gutmensch» zum ersten Mal aufkam. Als Verunglimpfung ist er mittlerweile ziemlich verbreitet, zur Verhöhnung der (vielleicht mitunter tatsächlich verkrampften) «politischen Korrektheit», aber auch als grundsätzliche Absage an Mitgefühl und Mitleid. Die Krönung der ganzen Entwicklung ist, dass in der ‹Weltwoche› noch Hitler zum Gutmenschen gemacht wurde. Dabei brauchte Hitler selbst, ganz in der Nietzscheanischen Tradition, «gut» als Schimpfwort.

Was ich nie ganz verstanden habe: Warum dies als Beschimpfung funktioniert. Was ist das Gegenteil eines Gutmenschen? Der Schlechtmensch? Wer will das denn sein? Ist nicht die Fähigkeit des Menschen, Mitgefühl auch für andere ausserhalb der engen Sippe zu empfinden, das, was ihn zum Menschen macht und eben vom Schimpansen unterscheidet? Cédric Wermuth sagte in einem Interview mit ‹Watson›:  «Links wählt man immer nur aus einer Hoffnungsperspektive auf eine bessere Welt.»  Das Menschenbild ist ein weiterer Unterschied. Hält man den Menschen für einen potenziellen Schuft, der jede Gelegenheit ergreift, zu betrügen? Oder glaubt man eben an das Gute im Menschen? An das Potenzial?

Ich glaube und zweifle immer wieder daran. Man verliert leicht den Glauben an die Menschheit, wenn man Online-Kommentare liest oder den «Bachelor» im Fernsehen schaut. Gleichzeitig wissen die Leute eigentlich recht gut, was richtig und falsch wäre. Darum sagen die Leute, dass sie Boulevard-Zeitungen schlecht finden und wissen dann doch, welcher Promi welchen geheiratet hat. Sie behaupten, nur Arte und 3Sat zu schauen, bleiben beim Zappen aber doch bei «Bauer, ledig, sucht» hängen. Und sie geben in Umfragen nicht zu, wenn sie fremdenfeindliche Parteien wählen. Das kann man als Heuchelei sehen. Oder positiv bewerten: Als Versuch, ein besserer Mensch zu sein. Ein Anspruch, an dem man halt auch immer wieder scheitert. Auch das macht das Menschsein aus.

Der Gutmensch ist also bei der nächsten Abstimmung gefordert. Zum Beispiel, wenn es um die Härtefallinitiative der SVP geht. Diese geht in der Fülle von Vorlagen, über die wir im Juni abstimmen, ein wenig unter. Das ist vielleicht nicht so schlecht, es bleibt uns ein unappetitlicher Abstimmungskampf erspart. Worum geht es? Im Herbst 2009 hat der Regierungsrat eine neunköpfige Härtefallkommission eingesetzt. Sie begutachtet Fälle, die vom Migrationsamt beurteilt wurden und gegen die es kein Rechtsmittel mehr gibt. In relativ wenigen Fällen gibt sie eine vom Migrationsamt abweichende Empfehlung ab. Der abschliessende Entscheid liegt beim Sicherheitsdirektor. Die Härtefallkommission beurteilt immer weniger Fälle: Im ersten Jahr begutachtete sie 81 Fälle, 2014 waren es noch 26 Fälle.

Der SVP war die Härtefallkommission schon immer ein Dorn im Auge. Sie versuchte mit einer Motion, die ungeliebte Kommission abzuschaffen. Sie unterlag im Kantonsrat äusserst knapp, worauf sie den Weg über die Volksinitiative suchte. Kantonsrat und Regierungsrat lehnten die Initiative gegen die Stimmen von SVP, FDP und EDU ab, jetzt entscheidet das Volk. Zwei Argumente sprechen dagegen: Ein eher unaufgeregtes, staatspolitisches und ein grundsätzliches. Zum ersten: Warum sollte der Regierungsrat für sich nicht eine beratende Kommission einsetzen dürfen? Auch wenn Markus Notter in einem wunderbaren, ehrlichen und klugen Interview im ‹Tages-Anzeiger› die Macht der Regierung relativiert hat: Eine Regierung darf auch ein bisschen regieren, dafür wurde sie schliesslich gewählt.

Zum Grundsätzlichen: Keine Regel ohne Ausnahme. Es sollte jedem klar sein, dass es Härtefälle geben kann. Und dass diese Härtefälle auch eine faire Chance erhalten sollen. Es gibt diese Fälle immer wieder, und es engagieren sich beispielsweise Nachbarn, Schulkolleginnen, die Zivilgesellschaft für sie. Für die Betroffenen, aber auch für deren Umfeld ist es wichtig zu wissen, dass ihr Anliegen seriös und ernsthaft geprüft wird. Natürlich kann man argumentieren, das Migrationsamt könne auch ohne Kommission Härtefälle anerkennen. Und letztlich sind es nur ein paar wenige Fälle, in denen die Härtefallkommission zu einer anderen Empfehlung gelangt. Es sind Einzelfälle, für deren Schicksal dieser Entscheid aber alles bedeutet. Wer sich aus reiner Prinzipientreue dagegen wehrt, dass diese Einzelfälle gründlich geprüft werden und eine Chance erhalten, hat vielleicht wirklich ein Herz aus Stein.

«Hart aber fair», so soll die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative für den FDP-Präsidenten Philipp Müller erfolgen. Der Vorschlag ist letztlich alter Philipp-Müller-Wein in neuen Schläuchen und sicher hart, aber eher weniger fair. Müller interpretiert das Volks-Ja zur Masseneinwanderungsinitiative als ein Ja zu einer restriktiveren Ausländerpolitik. Das müsse aber nicht bei der Personenfreizügigkeit umgesetzt werden, sondern könne auch anderswo geschehen. Und zwar mit grösseren Hürden für den Familiennachzug aus Drittstaaten (ich bin allerdings nicht sicher, ob jemand wie Brady Dougan hier mitgemeint ist) und restriktiveren Massnahmen bei der Asylpolitik. Auch hier will Müller den Familiennachzug einschränken und strengere Voraussetzungen bei der vorläufigen Aufnahme von Flüchtlingen schaffen, damit diese Anzahl sinkt. Zur Erinnerung: Vorläufig Aufgenommene sind jene Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt wurde, bei denen aber eine Wegweisung aus humanitären, völkerrechtlichen oder technischen Gründen nicht zumutbar ist. Häufig sind es Kriegsflüchtlinge, die vorläufig aufgenommen werden. Oder der Person droht in ihrem Heimatland eine Gefährdung an Leib und Leben. Beispielsweise eine Frau, die wegen Ehebruch gesteinigt werden soll. Zuweilen können die Personen auch nicht weggewiesen werden, weil deren Heimatland die Kooperation verweigert. Die Anzahl vorläufig Aufgenommener kann also kaum begrenzt werden, da diese Leute nicht ausgeschafft werden können. Man kann ihnen aber den Familiennachzug erschweren. Der oder die vorläufig Aufgenommene soll also die Kinder oder die Eltern nicht nachziehen dürfen. Es handelt sich insgesamt um rund 25 000 Personen. Zum Vergleich: Im ersten Quartal 2015 sind rund 40 000 Menschen aus der EU in die Schweiz eingewandert.

Nur um nicht missverstanden zu werden: Ich bin für die Fortführung der Bilateralen und war gegen die Masseneinwanderungsinitiative. Aber Müllers Devise: Wirtschaft schonen, Flüchtlinge plagen, geht mir gegen den Strich. Der heiligen Wirtschaft soll ja nicht zugemutet werden, vermehrt aufs einheimische Potenzial zu setzen. Also familienfreundliche Strukturen zu schaffen und in Ausbildung und Umschulung zu investieren. Dafür kann man bei ein paar wenigen armen Tröpfen ein wenig den harten Mann markieren. Mindestens kann man ihm nicht vorwerfen, ein Gutmensch zu sein. Aber vielleicht einer mit einem Herz aus Stein.