Ein Freund von mir schrieb auf Facebook: «Schlägt der Terrorist zu, so schlägt auch die Stunde der Idioten und Kretins.» Dieses Gefühl hatte ich auch, als ich mich in den letzten Tagen durch die sozialen Medien las. Grob kategorisiert, gibt es die Kretins von rechts, die den Terrorakt dazu missbrauchen, all ihre bereits bekannten Forderungen zu wiederholen: Grenzen schliessen, Mauern bauen, Überwachung verstärken, Flüchtlinge inhaftieren. Dann gibt es die Idioten von links, die sich darüber aufregen, dass die Welt um Paris trauert, dabei würden jeden Tag Kinder verhungern, ohne dass es jemanden interessiert. Und: Auch in Beirut habe es ein Attentat gegeben, darüber würde aber niemand sprechen.
Paris schockiert und betrifft uns mehr als Beirut, weil es uns näher ist. In Paris sind wir im verlängerten Wochenende, so wie in Berlin oder in Kopenhagen oder in London. Niemand macht Städtereisen nach Beirut. Das heisst nicht, dass die einen Toten mehr wert wären als die anderen. Die Aufrechnung wirkt aber ein wenig nach moralisierender Erbsenzählerei. Oder wie Deniz Yücel in der ‹Welt› schreibt: «Wie viele dieser Leute, die sich über eine angebliche Doppelmoral beschweren, haben in den Stunden nach Beirut die zu knappe Berichterstattung kritisiert? Wie viele haben, und sei es nur durch ein Facebook-Posting, ihre Anteilnahme bekundet? Wer wirklich Empathie für Beirut oder Ankara empfindet, unterlässt diese schäbigen Vergleiche.»
Dann wird heftig diskutiert, ob es doof ist, sein Facebook-Profilbild mit Tricolore oder dem Eifelturm-Peace-Zeichen zu verzieren. Ich wundere mich jeweils nicht mehr, warum gewisse Konflikte unlösbar erscheinen, wenn sich meine doch relativ homogene Facebook-Gemeinschaft wegen mässiger Differenzen gehässig aufs Dach gibt.
Die Stunde der Idioten schlägt aber auch – wenngleich etwas milder – andernorts zu. Überall erscheinen Analysen, Leitartikel Rezepte und Interviews mit Experten (Expertinnen gibt es praktisch keine). Die einen machen auf Kriegsrhetorik, die anderen fallen in die oben aufgeführten Idioten-Kategorien. Es wurde soviel Blödsinn geschrieben, dass ich – während ich diese Zeilen schreibe – zweifle, ob ich nicht selber zu noch mehr beredter Ratlosigkeit beitrage.
Das Problem ist, dass wir beim Unfassbaren nach Orientierung suchen, obwohl sie vielleicht einfach nicht da ist. Und nicht einfach zu finden ist. Der deutsche Comedian Jan Böhmermann publizierte auf Facebook «100 Fragen nach Paris». Sie reichen von einem «Warum» zu «Was sind das nur für Typen?» zu «Wer will Krieg, diese Typen oder wir?» bis zur letzten Frage: «Möchte ich lieber in einem Land leben, in dem ich alle Fragen stellen kann, aber nur auf wenige eine Antwort erhalte, oder in einem Land, in dem ich nur wenige Fragen stellen darf, die aber beantwortet bekomme?» Die Kolumnistin Yonni Meyer schrieb auf ‹Watson›, dass eine Frage fehlt. Und diese Frage ist: «Was macht das eigentlich mit mir?»
Was machen Terrorangriffe wie derjenige vom letzten Freitag und das im Frühjahr auf die Charlie-Hebdo-Redaktion erfolgte Attentat uns? Mit uns persönlich und mit unserer Gesellschaft?
Viele Kommentatoren schreiben, dass eine freie und offene Gesellschaft immer verwundbar ist. Und wenn wir diese Freiheiten und die Offenheit opfern, wir damit alles opfern, was unsere Gesellschaft ausmacht. Jens Stoltenberg, der norwegische Regierungschef, hatte nach dem Attentat in Oslo und auf der Ferieninsel Utøya, auf der die Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei ein Lager abhielt, gesagt: «Unsere Antwort auf Gewalt ist noch mehr Demokratie, noch mehr Menschlichkeit, aber nicht noch mehr Naivität. Das sind wir den Opfern schuldig.» Es ist eine selten besonnene Reaktion auf eine wahnsinnige Tat.
Es gibt nur ein Problem: Der Grundsatz ist richtig, aber einfach umzusetzen ist er dennoch nicht. Wie viele Attacken kann die offene und freie Gesellschaft überleben? Wieviel ist die Freiheit wert, wenn wir keine Sicherheit haben?
Wer für eine freie und offene Gesellschaft eintritt, wer weiterhin kritisch gegen Überwachungsmassnahmen ist und bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, wird es politisch in den nächsten Wochen und Monaten nicht einfach haben. Sich zu Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit zu bekennen, ist in einfachen Zeiten gratis. Erst wenn es schwierig ist, kommt es wirklich darauf an.
Es scheint absurd, dass rechte Politikerinnen und Politiker den Terrorangriff zum Anlass nehmen, die Aufnahme von Flüchtlingen in Frage zu stellen. Schliesslich flüchtet die Mehrzahl dieser Menschen genau vor diesem Terror, den diese PolitikerInnen angeblich bekämpfen wollen. Die Zahl der Toten durch Terrorismus ist in den letzten 15 Jahren dramatisch gestiegen (was zeigt, dass der ‹Krieg gegen den Terrorismus› nicht schaurig erfolgreich ist). Die grösste Mehrheit der Angriffe erfolgt in fünf Ländern: Irak, Nigeria, Afghanistan, Pakistan und Syrien. Das korrespondiert auch mit der Herkunft der meisten Flüchtlinge und erklärt auch, warum die Aufnahmequote im Moment so gross ist. Die Integration dieser Menschen ist aber tatsächlich eine Herausforderung – keine unlösbare – wenn man bedenkt, dass sie in einigen Ländern, wie gerade Frankreich oder Belgien, schon heute nicht gelungen ist.
Bei allem Ärger über dumme Kommentare und blöde Debatten bleibt festzuhalten: Die wahren Kretins sind immer noch die Attentäter und die Drahtzieher dahinter. Bei aller Selbstkritik an westlicher Politik der Gegenwart und Vergangenheit und dem berechtigten Eintreten gegen Islamophobie: Die Erklärung der Menschenrechte ist die beste Errungenschaft der westlichen liberalen Demokratie. Die Menschenrechte sind unteilbar und universell und sie gehören verteidigt. Dazu gehören auch die hart erkämpften Rechte von Frauen und Schwulen. Wir müssen die Islamisten genauso bekämpfen wie die Islamophobie. Sie sind tatsächlich zwei Seiten der gleichen Medaille, wie der Philosoph Slavoj Zizek schreibt: «Die IS sind der islamo-faschistische Gegenpart der europäischen Anti-Immigrations-Rassisten». Die Legitimation für Gewalt ist in jeder Religion und jeder Ideologie gegeben, wenn sie nur hartnäckig genug gesucht wird.
Die für mich schwierigste Frage zum Schluss: Was sollen wir eigentlich tun? In der Theorie ganz einfach: Ursachenbekämpfung. In der Praxis doch einiges schwieriger. Keine Waffen nach Saudi-Arabien oder ähnliche Länder zu liefern, ist geschenkt. Aber damit ist nur ein kleines Teil des Problems gelöst. Militärische Interventionen haben einen grossen Teil des Schlamassels ausgelöst. Aber einfach zusehen, wie sich Länder in einer Steinzeitideologie um Jahrzehnte zurückbomben, ist auch schwierig. Zumal wir nur bedingt gut mit den Folgen umgehen können. Und so bleibt die Stunde der Idioten auch die Stunde der Ratlosen. Inklusive mir.