Im Zürcher Gemeinderat hat die Budgetdebatte einen hohen Stellenwert. Höher als im Nationalrat. Hier geben höchstens die Armee und die Landwirtschaft gross zu reden. Im Gemeinderat begnügen sich die Fraktionen nicht mit vereinzelten Anträgen. Dort wird auch über Badetücher, Vorhänge, Zimmerpflanzen und Kopierkosten mit Verve und Freude gestritten. Auch scheint es, dass jede politische Debatte, die den Gemeinderat das Jahr über beschäftigt, auch im Rahmen der Budgetdebatte noch einmal aufs Tapet kommen muss. Immerhin gehe es um acht Milliarden Franken, über die der Gemeinderat zu bestimmen hat, heisst es jeweils, wenn ich mal angemerkt habe, dass man vielleicht nicht jeden chancenlosen Antrag stellen müsse. Und auch nicht jeden Antrag episch begründen und diskutieren müsse.
Die Schlagzeilen um die Budgetdebatte beherrschte ein Mann – Mario Babini. Der parteilose Gemeinderat ist zum berühmten Zünglein an der Waage geworden. SP, Grüne und Alternative haben im Gemeinderat 62 Stimmen – CVP, GLP, FDP und SVP ebenfalls. Und so kommt Babini zuweilen eine entscheidende Rolle zu, die er durchaus geniesst. Er hört sich jeweils die Begründungen beider Seiten an und fällt dann seine Entscheidung. Zuweilen auch in der Gemeinderatsdebatte, so dass diese eine Rolle erhält, die eher ungewöhnlich ist – denn in der Regel sind die Meinungen gemacht, wenn im Rat die Reden gehalten werden. Einen entscheidenden Antrag für einen Kompromiss hat Mario Babini beim Personal gestellt, was es der Mehrheit des Gemeinderats möglich gemacht hat, dem Budget zuzustimmen (P.S. berichtete). Im Vorfeld bestand die Gefahr, dass das Budget abgelehnt würde. Weil die SVP dem Budget sowieso nie zustimmt und SP und Grüne wegen den Kürzungen beim Personal ebenfalls abgelehnt hätten. Dass nun ein Budget von acht Milliarden von der Stimme eines Einzelnen abhängt, wirft ein wenig ein seltsames Licht auf das Parlament.
Babini sagt selbst, dass er auf der Spieltheorie basierende Prinzipien anwende. Die Budgetdebatte sei ein Paradebeispiel der praktischen Anwendung der Theorie von John Forbes Nash. Beim sogenannten Nash-Gleichgewicht geht es darum, dass eine Konstellation im «Spiel» besteht, wonach es sich für keinen Spieler lohnt, seine Position aufzugeben, solange der andere seine Position auch nicht aufgibt. Ein berühmtes Beispiel für die Spieltheorie ist das Gefangenen-Dilemma. Zwei Gefangene werden beschuldigt, gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Die beiden werden einzeln verhört und können sich nicht absprechen. Es wird vor dem Verhör folgendes vorgeschlagen: Wenn einer gesteht und seinen Komplizen belastet, kommt er frei, seinem Komplizen droht die Höchststrafe. Gestehen beide, erhalten beide eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe, weil das Geständnis strafmildernd wirkt. Verweigern beide die Aussage, kommen sie mit einer geringen Strafe davon, weil ein Indizienprozess geführt werden muss und man ihnen nur ein geringeres Verbrechen wirklich nachweisen kann. Die Gefangenen müssen also entscheiden, ob sie gestehen oder nicht. Sie wissen allerdings nicht, was der andere machen wird und das zu erwartende Strafmass nicht nur von der eigenen Aussage abhängt. Das Problem: Für den einzelnen erscheint es eigentlich reizvoll zu gestehen, wenn aber beide gestehen, wäre es sinnvoller gewesen, sie hätten beide die Tat abgestritten.
Die Budgetdebatte im Zürcher Gemeinderat als Spiel mit nonkooperativen Partnern anzusehen, von denen alle der Meinung sind, sie verfolgten die richtige Strategie und sich daher keiner bewegt, ist kein schlechtes Bild und ein durchaus reizvolles Gedankenspiel. Allerdings geht dabei vergessen, dass es eigentlich nicht so ist, dass keiner bereit wäre, sich zu bewegen.
Vor und auch nach den Bundesratswahlen überboten sich die Parteien der Mitte – und auch die FDP – damit, jeweils an die Verantwortung (in diesem Fall der SVP) zu appellieren. Nun haben die Bundesratswahlen wenig mit Zürcher Budgetdebaten zu tun. Das Narrativ ist aber dasselbe und wird auch medial gerne verbreitet. Die Mitte ist demnach vernünftig und verantwortungsvoll, die bösen Polparteien von links und rechts hingegen sind sture Böcke, die der Vernunft im Weg stehen. Ina Müller hat in ihrer Kolumne diese Vorstellung bereits einmal seziert.
Das Problem an dieser Geschichte ist, dass sie zwar schön tönt, aber letztlich nicht stimmt. Der amerikanische Ökonom Paul Krugman witzelte einmal in seiner Kolumne über den Hang der Medienschaffenden, keine Seite beziehen zu wollen – also eine Position der Mitte einzunehmen –, selbst dann, wenn die eine Seite einen Quatsch behaupte. Also wenn eine politische Seite (bei Krugman ist auch klar, welche er meint) findet, die Welt sei flach, würden die Medien titeln: «Die Form der Erde ist umstritten».
Wir haben mit unserem Mehrparteiensystem und dem Kollegialitätsprinzip andere Verhältnisse als im Zweiparteiensystem USA. Das heisst aber auch, dass hier keine Partei – und kein ‹Lager› – von sich aus eine Mehrheit hat. Es muss sich also immer einer bewegen. In dieser und auch in der letzten Budgetdebatte war es eben zuweilen Mario Babini.
Das Problem ist allerdings vor allem, dass sich die Mitte bewegen müsste und dies eben immer seltener tut. Ich habe in meiner Zeit als Gemeinderätin kaum je erlebt, dass die SP nicht für einen Kompromiss Hand geboten hätte, wenn es für die Mehrheit einer Vorlage entscheidend war. Auch in Bundesbern ist die SP bei vielen entscheidenden Kompromissen massgebend, von der Energiestrategie bis zur Altersvorsorge.
Diejenigen aber, die sich eigentlich diese Position auf die Fahne geschrieben haben, sind weniger beweglich. Die Mehrheitsverhältnisse im Zürcher Gemeinderat sind allen Beteiligten wohl bewusst. Dass es zum Schluss auf die Stimme von Babini ankommen kann, hat sich schon im letzten Jahr gezeigt. CVP und GLP hätten es in der Hand gehabt, das Budget zu prägen und der Linken Kompromisse abzuringen. Sie haben sich aber in die Koalition mit FDP und SVP begeben, wohl wissend, dass dies am Ende bedeuten könnte, dass die Stadt Zürich ohne Budget dastehen könnte.
Die Priorität für sie war, aus dem Budget mit doch teilweise eher symbolischen Sparanträgen noch ein paar Millionen zu streichen, damit am Ende eine schwarze Null oder sogar ein kleiner Gewinn da steht. Auch wenn klar ist, dass das bei der Rechnung wohl sowieso eingetroffen wäre.
Es passt dabei auch wunderbar damit zusammen, dass man gerne Anträge stellen will, die nicht wehtun sollen. Beziehungsweise man dann dem Stadtrat vorhalten kann, er spare am falschen Ort. Weil man nicht sagen will, welche Stellen denn wirklich unnütz seien und welche Aufgaben die Stadt nicht mehr übernehmen soll. Genau damit hat die SVP allerdings keine Mühe. Die Mitte hingegen schon, weil sie dann, wenn man merkt, dass sparen doch nicht ganz schmerzlos geht, nicht schuld sein will. Mit verantwortungsvollem Handeln hat das alles wenig zu tun. Sie kommt allerdings allzu oft damit durch. Weil eben zu viele Leute glauben, dass die Form der Welt tatsächlich umstritten sei.