Als Jugendliche war ich bei Amnesty International engagiert. Wir betreuten in unserer Gruppe einen Gewissensgefangenen aus Indonesien. Der Mann sass im Gefängnis, weil er in seinem Arbeitsspind ein Bild des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini aufgehängt hatte. Nun habe ich wenige Sympathien für Ayatollah Khomeini, seine Ideen oder seine Anhänger. Aber dennoch sollte man nicht für ein aufgehängtes Bild von ihm in den Knast müssen.
Das ist halt so die Sache mit den Menschenrechten und der Demokratie. Manchmal tut es eben auch ein wenig weh. Wenn man Wahlen verliert beispielsweise. Und noch mehr, wenn eine Person gewinnt, die man wirklich furchtbar findet. Aber zu einer Demokratie gehört nun mal, dass man das demokratische Resultat akzeptiert.
Gerne wird Voltaire zitiert in den Sonntagsreden: «Mein Herr, ich teile ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass sie sie äussern können». Und fühlt sich erhaben pathetisch. Aber fühlt man sich dann auch so bei Neonazi-Konzerten? Mohammed-Karikaturen? Ziegenschmähgedichten? Profanen Beleidigungen? Die Grenze ist manchmal schmerzhaft und nicht bei allen gleich.
«Mit der Schule ist es wie mit der Medizin, sie muss bitter schmecken, sonst nützt es nichts», heisst es in der ‹Feuerzangenbowle›von Heinrich Spoerl. Und ein wenig ist es auch so mit der Demokratie. Sie gilt eben nicht nur bei Sonnenschein. Sondern gerade auch im Sturm.
Und so ärgert mich die Geschichte rund um den chinesischen Staatsbesuch. Natürlich ist mir bewusst, dass wir wichtige wirtschaftliche Beziehungen zu China haben – und dass die Situation in China sich nicht unbedingt verbessert, wenn es diese nicht gäbe. Die umgekehrte Hoffnung – dass sich China durch den Handel und den Kontakt mit dem Westen demokratisieren könnte – teile ich auch nicht. Sie starb wohl 1989 auf dem Tiananmen-Platz. Es ist mir auch klar, dass Polizeitaktik nicht ganz trivial ist. Und natürlich gibt es eine gewisse Etikette beim Staatsbesuch. Was mich aber wirklich stört, ist diese Haltung, dass man dem chinesischen Staatspräsidenten auf wirklich keinen Fall zumuten dürfe, dass er auf seinem Besuch auch nur ein kleines bisschen mit der Demokratie in Berührung kommt. Beispielsweise mit einer ‹Free Tibet›-Flagge, die aus dem Fenster eines Wohnhauses gehängt wird.
Der Berner Unternehmer und FDP-Mann Roland Mathys sprach in einem Interview mit dem ‹Bund› davon, dass es pragmatisch und klug sei, «China nicht unnötig zu provozieren». Natürlich, nach «unseren Massstäben ist klar, dass etwa die Annexionen im Südchinesischen Meer, die Todesstrafe oder die gewaltsame Unterdrückung von Kritikern verwerflich sind.» Aber man könne die westliche Denkweise nicht einfach auf China übertragen. SVP-Nationalrätin und Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher ist auch ein grosser Fan von China: «Europäische Regierungen wollen vor allem sich selber profilieren und handeln nicht aus Verantwortung für ihr Land. Die chinesische Regierung hingegen handelt fundiert, professionell, langfristig ausgerichtet», sagte sie 2011 in einem Interview.
Beides offenbart einen etwas eigenartigen Kulturrelativismus: Wir dürfen ihnen nicht unsere westlichen Werte aufzwingen. Kein Freisinniger oder SVPler würde dies je sagen, wenn es um einen muslimischen Vater geht, der seiner Tochter den Schwimmunterricht verbietet. Menschenrechte und Demokratie sind universell und unteilbar. Es ist nicht einfach nur ein Schönwetterprogramm für reiche westliche Länder.
Derweil plaudern am WEF Wirtschaftsführer und Politikerinnen über die Herausforderungen des Kapitalismus und die wachsende Ungleichheit – danach gibt es einen Hot Dog für 38 Franken. Bereits seit einigen Jahren klingt WEF-Gründer Klaus Schwab schon beinahe wie ein Sozialdemokrat, ein Juso gar. So sagte er beispielsweise 2012: «Der Kapitalismus in seiner heutigen Form ist nicht länger das Wirtschaftsmodell, das die globalen Probleme lösen kann.» Es herrscht Konsens: Ungleichheit ist ein Problem. Nur – wie es der Ökonom Branko Milanovich in einem Interview mit ‹Watson› sagt: «Niemand unternimmt etwas dagegen. Immerhin wird das Problem inzwischen anerkannt. Doch mich beginnt das Gerede darüber zu langweilen. Es ist doch absurd, wenn sich die versammelten Milliardäre in Davos darin bestärken, dass Ungleichheit ein Problem ist.» Denn wenn es beispielsweise um die Unternehmensbesteuerung geht, dann ist das Problem Ungleichheit schnell vergessen.
Heute wird Donald Trump als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Möglicherweise überrascht er uns ja positiv und die vielen düsteren Szenarien treffen nicht ein. Aber wenn man den Mann bei seinem eigenen Wort nimmt – und das sollte man ja eigentlich auch tun – dann könnte sich doch einiges in Zukunft ändern. Die bisherige transatlantische Partnerschaft, das internationale Welthandelssystem. Die einen oder anderen Linken wie Slavoj Zizek mögen sich von Trump erhoffen, dass er die neoliberale Globalisierung (unfreiwillig) zerstört. Von den innenpolitischen Massnahmen wie der Abschaffung von Obamacare, dem Aushungern von Planned Parenthood, die vielerorts die gynäkologische Versorgung sicherstellt, den Einschränkungen beim Wahlrecht oder der Privatisierung der Bildung und der Infrastruktur werden aber vor allem die Ärmsten und der untere Mittelstand zu leiden haben.
Bis anhin haben sich vor allem Linke und Linksliberale in Selbstreflexion – zuweilen auch Selbstzerfleischung – geübt, wenn es um den Aufstieg des Rechtspopulismus und die Trump-Wahl ging. Das alles nicht zu Unrecht. Die Wirtschaftselite und deren politische VertreterInnen fühlten sich allerdings bis anhin nicht gross betroffen. Sie sind aber letztlich in der Verantwortung. Denn sie müssen sich entscheiden, auf was sie setzen: Auf die vielerorts erstarkenden rechtskonservativen und – nationalistischen – Kräfte, mit teilweise unberechenbaren oder gar autokratischen Zügen. Oder ob sie ihren schönen Worten doch ein paar Taten folgen lassen, auch wenn es ihren Profit ein wenig schmälert. Aber eben – ein bisschen weh tut es immer, sonst ist es auch nichts wert.