1. Mai-Rede in Wil, St. Gallen

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Meine allererste 1. Mai-Rede mit Dank an die SP Wil für diese Gelegenheit.

Liebe Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen, liebe Fest-Besucherinnen und Besucher

Gestern las ich in der Sonntagszeitung einen dieser obligaten Texte zum 1. Mai. Dass der 1. Mai eigentlich unnötig sei. Weil es den Leute ja so geht. Und er Kapitalismus so toll sei. Die Die Schweizer Arbeitnehmer seien die „glücklichsten der Welt“ und hätten darum keinen Grund zum Demonstrieren, stand da. Und weil sie keinen richtigen Grund hätten, würden sie nur für ganz allgemeine Werte wie „Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit“ auf die Strasse gehen. Als ob es sich nicht lohnen würde dafür zu demonstrieren. Was tausende Menschen in der ganzen Schweiz heute auch taten.

Nur paar Seiten weiter hinten ist in der gleichen Zeitung zu lesen, dass die Kinderarmut in Europa gestiegen ist. In zwei Drittel aller europäischen Länder nahm die Kinderarmut zwischen 2008 und 2014 zu: In Griechenland, Zypern und Island um über 15 Prozentpunkte, in Ungarn, Italien, Irland und Spanien um sieben bis neun Punkte. Dieser Anstieg ist eine direkte Folge der Austeritätspolitik: Die Länder brauchten Geld, um die Finanzinstituten zu reden. Und dieses Geld versuchte man bei den Sozialausgaben wieder zu holen. Besonders dramatisch ist die Lage in Griechenland: Jedes zweite Kind ist dort von Armut betroffen. Das Land stand nahe am Bankrott, ein rigoroser Sparkurs wurde verordnet: 20 Prozent wurden bei der Arbeitslosenunterstützung und den Mindestlöhnen gekürzt. Die Folgen: Die Zahl unterernährter Kinder nahm zu, bei den Schulleistungen stürzten die Kinder ab. Das Land ist in der Armutsfalle, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt.

In der Schweiz sind die Zahlen besser. Im gleichen Zeitraum ist bei uns die Kinderarmut gesunken. Aber das heisst nicht, dass es sie nicht gibt. Vor ein paar Tagen fuhr ich mit der Zürcher Ombudsfrau im Zug von Bern nach Zürich, wir sprachen auch über ihre Arbeit. Sie sagte, dass es zwar sehr gut sei, was Zürich täte im Sozialbereich. Aber: Es gäbe die Tendenz, dass man vermeiden wolle, dass Armut sichtbar werde. Man wolle keine Bettler sehen auf der Bahnhofstrasse, keine Randständige in den Pärken. Dafür tue man auch was, und lasse es sich etwas kosten. Aber genau das führe eben auch dazu, dass die Leute meinen, es gäbe gar keine Armut in der Schweiz.

Tatsächlich wachsen weniger Kinder in Armut auf in der Schweiz als in Griechenland. Dennoch sind 18 Prozent aller Kinder in der Schweiz armutsgefährdet. Häufig Kinder von alleinerziehenden Eltern, die keine Arbeit oder nur eine schlecht bezahlte Arbeit haben. Man sieht diese Armut nicht, weil Armut in der Schweiz ein Tabu ist, weil es als persönliches Versagen gilt. Man sieht diese Armut aber auch nicht, weil diese Leute nicht das Geld haben, um in unserer Gesellschaft, in der fast alles etwas kostet, mitzumachen. Sie sind weder im Kino noch in der Badi, nicht im Museum oder nicht im Fitness. Sie sind nicht in den Vereinen und sie sind nicht in der Politik. Aber es gibt sie.

Wir demonstrieren heute und wir feiern heute den 1. Mai, weil wir – im Gegensatz zum Schreiber in der Sonntags-Zeitung – Zusammenhänge erkennen und über den Tellerrand hinausblicken können. Wir sehen, dass es in der Logik eines ungerechten Systems ist, dass die Rettung von Banken zum Hungern von Kindern führt. Dass es eben nicht stimmt, dass es, wenn es der Wirtschaft gut geht, allen gut geht. Sondern im Moment nur wenigen immer besser und vielen immer schlechter.

Wir demonstrieren und feiern heute auch, weil wir die Nullsummenlogik der Knappheit ablehnen. Es hat nicht zuwenig Geld, es ist bloss falsch verteilt. Wir wollen darum auch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen. Denn es gibt nicht mehr Geld für SozialhilfeempfängerInnen, wenn wir den Flüchtlingen etwas wegnehmen, und es gibt auch nicht mehr Geld für RentnerInnen, wenn wir den Sozialhilfe-EmpfängerInnen etwas wegnehmen. Die Nullsummen-Logik der Bürgerlichen kennt nur eine Dynamik – die nach unten.

Darum feiern wir den Tag der Arbeit nicht nur als Tag von jenen, die Lohnarbeit haben. Wir kämpfen auch für jene, die Arbeit suchen oder für jene, die heute von der Rente leben.  Wir wissen, dass der Tag der Arbeit auch der Tag der unbezahlten Arbeit ist. Dass unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft nur funktionieren, weil so viele Stunden unbezahlt geleistet werden. Meist von Frauen und auch das oft unsichtbar: Für die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen, aber auch in der freiwilligen Arbeit. Und weil wir gegen die Nullsummenlogik sind, und wir über den Tellerrand hinausblicken können, wissen wir, dass Solidarität über die eigene Betroffenheit hinausgeht. Und hinausgehen muss.

In der Verfassung steht, dass sich die Stärke des Volkes misst am Wohl der Schwachen. Wir wissen, es steht viel in unserer Verfassung, das nicht umgesetzt wird, diese Kritik hat übrigens nicht die SVP erfunden. Seit über 35 Jahren ist beispielsweise die Lohngleichheit in der Verfassung – umgesetzt ist sie immer noch nicht. Auch das ist ein Grund, heute zu demonstrieren.

Die Linke, die Gewerkschaften waren immer eine fortschrittliche Bewegung mit einem langen Schnauf. Und sie haben in den letzten hundert Jahren gewaltige Verbesserungen errungen, von der Altersvorsorge und Arbeitslosenversicherung zur Mutterschaftsversicherung, vom Frauenstimmrecht zum Gleichstellungsgesetz.

Wer heute Zeitung liest, oder Nachrichten schaut, oder sich durch Twitter klickt, wer einfach schlicht die Augen offen hat, was in der Schweiz und in der Welt geschieht, sieht, dass es heute und in Zukunft weiterhin soziale, ökologische und fortschrittliche Kräfte braucht, die für mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie und die Menschenrechte kämpfen. Und die den gleich langen Schnauf beweisen, wenn es um die Herausforderungen der Zukunft geht. Dazu brauchen wir Kraft. Und auch etwas Spass. Darum lasst uns heute feiern. Heute am 1. Mai.

Liebe Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen, liebe Fest-Besucherinnen und Besucher

Gestern las ich in der Sonntagszeitung einen dieser obligaten Texte zum 1. Mai. Dass der 1. Mai eigentlich unnötig sei. Weil es den Leute ja so geht. Und er Kapitalismus so toll sei. Die Die Schweizer Arbeitnehmer seien die „glücklichsten der Welt“ und hätten darum keinen Grund zum Demonstrieren, stand da. Und weil sie keinen richtigen Grund hätten, würden sie nur für ganz allgemeine Werte wie „Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit“ auf die Strasse gehen. Als ob es sich nicht lohnen würde dafür zu demonstrieren. Was tausende Menschen in der ganzen Schweiz heute auch taten.

Nur paar Seiten weiter hinten ist in der gleichen Zeitung zu lesen, dass die Kinderarmut in Europa gestiegen ist. In zwei Drittel aller europäischen Länder nahm die Kinderarmut zwischen 2008 und 2014 zu: In Griechenland, Zypern und Island um über 15 Prozentpunkte, in Ungarn, Italien, Irland und Spanien um sieben bis neun Punkte. Dieser Anstieg ist eine direkte Folge der Austeritätspolitik: Die Länder brauchten Geld, um die Finanzinstituten zu reden. Und dieses Geld versuchte man bei den Sozialausgaben wieder zu holen. Besonders dramatisch ist die Lage in Griechenland: Jedes zweite Kind ist dort von Armut betroffen. Das Land stand nahe am Bankrott, ein rigoroser Sparkurs wurde verordnet: 20 Prozent wurden bei der Arbeitslosenunterstützung und den Mindestlöhnen gekürzt. Die Folgen: Die Zahl unterernährter Kinder nahm zu, bei den Schulleistungen stürzten die Kinder ab. Das Land ist in der Armutsfalle, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt.

In der Schweiz sind die Zahlen besser. Im gleichen Zeitraum ist bei uns die Kinderarmut gesunken. Aber das heisst nicht, dass es sie nicht gibt. Vor ein paar Tagen fuhr ich mit der Zürcher Ombudsfrau im Zug von Bern nach Zürich, wir sprachen auch über ihre Arbeit. Sie sagte, dass es zwar sehr gut sei, was Zürich täte im Sozialbereich. Aber: Es gäbe die Tendenz, dass man vermeiden wolle, dass Armut sichtbar werde. Man wolle keine Bettler sehen auf der Bahnhofstrasse, keine Randständige in den Pärken. Dafür tue man auch was, und lasse es sich etwas kosten. Aber genau das führe eben auch dazu, dass die Leute meinen, es gäbe gar keine Armut in der Schweiz.

Tatsächlich wachsen weniger Kinder in Armut auf in der Schweiz als in Griechenland. Dennoch sind 18 Prozent aller Kinder in der Schweiz armutsgefährdet. Häufig Kinder von alleinerziehenden Eltern, die keine Arbeit oder nur eine schlecht bezahlte Arbeit haben. Man sieht diese Armut nicht, weil Armut in der Schweiz ein Tabu ist, weil es als persönliches Versagen gilt. Man sieht diese Armut aber auch nicht, weil diese Leute nicht das Geld haben, um in unserer Gesellschaft, in der fast alles etwas kostet, mitzumachen. Sie sind weder im Kino noch in der Badi, nicht im Museum oder nicht im Fitness. Sie sind nicht in den Vereinen und sie sind nicht in der Politik. Aber es gibt sie.

Wir demonstrieren heute und wir feiern heute den 1. Mai, weil wir – im Gegensatz zum Schreiber in der Sonntags-Zeitung – Zusammenhänge erkennen und über den Tellerrand hinausblicken können. Wir sehen, dass es in der Logik eines ungerechten Systems ist, dass die Rettung von Banken zum Hungern von Kindern führt. Dass es eben nicht stimmt, dass es, wenn es der Wirtschaft gut geht, allen gut geht. Sondern im Moment nur wenigen immer besser und vielen immer schlechter.

Wir demonstrieren und feiern heute auch, weil wir die Nullsummenlogik der Knappheit ablehnen. Es hat nicht zuwenig Geld, es ist bloss falsch verteilt. Wir wollen darum auch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen. Denn es gibt nicht mehr Geld für SozialhilfeempfängerInnen, wenn wir den Flüchtlingen etwas wegnehmen, und es gibt auch nicht mehr Geld für RentnerInnen, wenn wir den Sozialhilfe-EmpfängerInnen etwas wegnehmen. Die Nullsummen-Logik der Bürgerlichen kennt nur eine Dynamik – die nach unten.

Darum feiern wir den Tag der Arbeit nicht nur als Tag von jenen, die Lohnarbeit haben. Wir kämpfen auch für jene, die Arbeit suchen oder für jene, die heute von der Rente leben.  Wir wissen, dass der Tag der Arbeit auch der Tag der unbezahlten Arbeit ist. Dass unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft nur funktionieren, weil so viele Stunden unbezahlt geleistet werden. Meist von Frauen und auch das oft unsichtbar: Für die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen, aber auch in der freiwilligen Arbeit. Und weil wir gegen die Nullsummenlogik sind, und wir über den Tellerrand hinausblicken können, wissen wir, dass Solidarität über die eigene Betroffenheit hinausgeht. Und hinausgehen muss.

In der Verfassung steht, dass sich die Stärke des Volkes misst am Wohl der Schwachen. Wir wissen, es steht viel in unserer Verfassung, das nicht umgesetzt wird, diese Kritik hat übrigens nicht die SVP erfunden. Seit über 35 Jahren ist beispielsweise die Lohngleichheit in der Verfassung – umgesetzt ist sie immer noch nicht. Auch das ist ein Grund, heute zu demonstrieren.

Die Linke, die Gewerkschaften waren immer eine fortschrittliche Bewegung mit einem langen Schnauf. Und sie haben in den letzten hundert Jahren gewaltige Verbesserungen errungen, von der Altersvorsorge und Arbeitslosenversicherung zur Mutterschaftsversicherung, vom Frauenstimmrecht zum Gleichstellungsgesetz.

Wer heute Zeitung liest, oder Nachrichten schaut, oder sich durch Twitter klickt, wer einfach schlicht die Augen offen hat, was in der Schweiz und in der Welt geschieht, sieht, dass es heute und in Zukunft weiterhin soziale, ökologische und fortschrittliche Kräfte braucht, die für mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie und die Menschenrechte kämpfen. Und die den gleich langen Schnauf beweisen, wenn es um die Herausforderungen der Zukunft geht. Dazu brauchen wir Kraft. Und auch etwas Spass. Darum lasst uns heute feiern. Heute am 1. Mai.