1. Mai Rede in Olten: Wir sind die Bewegung der Freiheit

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Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Gäste

Die SP Zürich veranstaltet am heutigen 1. Mai einen Workshop mit dem Titel „Wie motiviere ich mein Mami für den Frauenstreik“. Ich habe das gelesen und dachte mir, dass es mich vielleicht deprimieren würde, wenn meine eigene Tochter beim nächsten Frauenstreik in ungefähr dreissig Jahren so einen Workshop besuchen würde. Zum einen, weil der Gedanke deprimierend ist, dass es dann die Frauen immer noch streiken müssen. Und zum zweiten, weil es mich natürlich beleidigen würde, wenn meine Tochter meinen würde, sie müsse mich dazu motivieren. Schliesslich war ich schon beim ersten Frauenstreik dabei. Wobei ich natürlich zugeben muss, dass das Streiken mir als Kantischülerin vor allem einen willkommenen Anlass gab, mit gutem Grund den ganzen Tag in der Mensa rumzuhängen.

Wir vergessen schnell die Kämpfe von gestern. Ich habe letzte Woche für meine Zeitung ‹P.S.› ein Interview mit dem deutschen Schriftsteller Raul Zelik  geführt. Es ging um die Freiheit und den Liberalismus. Er meinte, dass wir viele falsche Vorstellungen davon hätten. Wir meinten, wir hätten unsere Rechte und unsere Freiheiten den liberalen Revolutionen, der Aufklärung zu verdanken. Wir kennen die Geschichte aus dem Geschichtsunterricht: Die moderne Schweiz gibt es seit 1848, die einzige erfolgreiche liberale Revolution mit einer demokratischen Verfassung. Nur galt eben die Demokratie nicht für alle, für die Juden nicht, für DienstbotInnen oder Armengenössige auch nicht. Und wir wissen: Für die Frauen schon gar nicht. Sie haben das Stimmrecht bekanntlich erst 1971, in Appenzell Innerrhoden erst 1991 erhalten. Dass sie abstimmen dürfen, haben die Frauen nicht den Liberalen zu verdanken. Sondern sich selbst und ihren Kämpfen. Wie fast alle sozialen und freiheitlichen Errungenschaften, auf die wir heute stolz sind durch die Betroffenen und ihre Verbündeten erkämpft wurden.  

Sie kennen vielleicht den Monty Python-Film „The Life of Brian“. Dort trifft sich eine Gruppe jüdischer Widerstandskämpfer, um einen Anschlag auf Pontius Pilatus zu planen und einer sagt: Was haben die Römer überhaupt für uns getan? Worauf ein anderer einwirft: Nun, die Wasserversorgung. Dann sagen die anderen, ja stimmt, aber sonst? Was haben die Römer sonst für uns getan? Dann der nächste: Die Kanalisation? Wisst ihr noch, wie es früher gestunken hat? Und die anderen: Oh ja, aber neben der Wasserversorgung und der Kanalisation, was haben die Römer für uns getan? Strassen, meint ein weiterer, Bildung ein anderer, medizinische Versorgung der nächste. Sie können sich vorstellen, wie es weiter geht. Und so geht es den Linken häufig auch. Mindestens wenn man heute Zeitung liest: Was haben wir den Linken, den Gewerkschaften zu verdanken? Formulare und Bürokratie. Darum ist es gut, gibt es den ersten Mai: Um wieder in Erinnerung zu rufen, was wir der Arbeiterbewegung, der Linken zu verdanken haben. Ohne Arbeiterbewegung, ohne Linke gäbe es kein allgemeines Wahlrecht, keinen Sozialstaat, keine Altersvorsorge. Ohne sie könnten Unverheirate nicht zusammenleben und müssten Ehefrauen immer noch ihren Mann fragen, ob sie einen Beruf ausüben dürfen.  All dies scheint uns jetzt selbstverständlich, weil wir vergessen haben, dass alle Fortschritte immer erkämpft wurden und auch weiterhin erkämpft werden müssen.

Das Vergessen ist das Eine, liebe Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen. Die Rechte hat uns auch ganz erfolgreich unsere Werte geklaut. In der NZZ gibt es fast jeden Tag einen grossen Artikel, wie Linke und Grüne alle bevormunden, dem Bürger die Freiheit wegnehmen, übers Wochenende nach London zu jetten oder jeden Tag Fleisch zu essen oder ein anzügliches Witzli zu reissen.  Dabei ist es die Linke, die die Freiheiten erkämpft hat. Wenn die Rechten das Rad der Zeit zurückdrehen wollen, wollen sie sie diese geraden jenen, die ihre Freiheit hart erkämpft haben, wieder wegnehmen. Wir wissen, von Freiheit zu reden ist das eine, in Freiheit zu leben etwas anderes. Denn das kann nur, wer auch in Würde leben kann. Wie sagte schon Willi Ritschard: „Indem wir gemeinsam unseren alten und invaliden, oder auch sonst bedrängten Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine gesicherte Zukunft garantieren, verteilen wir auch Freiheit. Freiheit kann sich nur in der Sicherheit entfalten.“

Wir sind die Bewegung der Freiheit, liebe Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen. Und wir wollen noch mehr Freiheit. Wir wollen, dass die Freiheit und die Demokratie nicht am Arbeitsplatz aufhören. Wir wollen, dass alle Leute die Freiheit haben, zu heiraten, wen sie wollen.. Wir wollen, dass ein Kind die Freiheit hat, seinen Lebensweg zu gehen, unabhängig vom Portemonnaie seiner Eltern. Freiheit heisst auch Meinungsfreiheit, ja. Aber damit ist nicht in erster Linie das Recht gemeint, rassistische Sprüche zu klopfen. Sondern für seine Überzeugung einstehen zu können, ohne Angst davor haben zu müssen, dafür angegriffen zu werden.

Am vergangenen Samstagabend gab es drei Brandanschläge auf die Briefkasten von SP-Präsidentin Franziska Roth, Juso-Präsidentin Lara Frey und Philipp Jenni, dem Präsidenten der SP Amtei Solothurn Lebern. Zum Glück wurde niemand verletzt! Dennoch ist es nicht nur ein Angriff auf diese drei Personen, sondern auch ein Angriff auf uns alle, die wir Politik machen. Wir haben in der Schweiz eine Kultur, in der man sich in der Politik trotz Differenzen mit Respekt begegnen soll und wo Politikerinnen und Politiker keinen Personenschutz brauchen. Franziska Roth schreibt auf Facebook: „Wir kämpfen mit euch weiter für eine sichere, faire und solidarische Schweiz… und wir bleiben unbequem in der Sache aber fair im Ton!“ Ich kenne Franziska gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt und ich bin sicher, dass es auch für die anderen beiden gilt und für die ganze SP Solothurn. Und ich kann euch versichern: Wir kämpfen mit euch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen. Wie sagte schon Simone de Beauvoir: „Frauen die nichts fordern, werden beim Wort genommen. Sie bekommen nichts.“ Wir wollen aber nicht nichts, sondern alles. Und zwar jetzt. Wenn meine Tochter also in dreissig Jahren mich für den nächsten Frauenstreik motivierien will, freue ich mich. Das heisst, dass sie etwas fordert.Und es heisst, dass die Welt noch da ist. Das ist in der heutigen Zeit mit Klimakatastrophe und orangen Wahnsinnigen im Weissen Haus nicht selbstverständlich. Wenn ich die Bewegung der Klimajugend und der jungen Frauen, die sich beim Frauenstreik engagieren sehe, dann stimmt mich das zuversichtlich, dass die Welt nicht nur noch da ist, sondern auch eine bessere sein wird.

In diesem Sinne wünsche ich allen einen schönen und freien 1. Mai.