Vor rund zwei Wochen störte eine Gruppe Linksautonomer eine Veranstaltung zum Thema Chile im Zentrum Karl der Grosse. Dabei wurden Eier und Flüssigkeiten auf den libertären Redner Axel Kaiser und einige Zuschauer geworfen. Wegen dieser Aktion musste die Veranstaltung abgebrochen werden. Am 13. November kam es während einer Makroökonomik-Vorlesung von AfD-Mitgründer Bernd Lucke zu Protesten. Es gab Buh-Rufe, es wurde «Nazi-Schweine raus aus der Uni» skandiert, Antifa-Fahnen aufgespannt. Seither hält Lucke seine Vorlesungen unter Polizeischutz ab.
In einem Interview mit der NZZ monierte der Philosoph Peter Boghossian Denkverbote und zunehmende intellektuelle Orthodoxie an amerikanischen Universitäten. Boghossian wurde international bekannt dadurch, dass er mit einer Kollegin und einem Kollegen mehrere Jux-Aufsätze in geisteswissenschaftlichen Zeitschriften publizieren konnte. Sie wollten damit die Wissenschaftlichkeit jener Disziplinen infrage stellen, die sie als «Grievance Studies» (Jammerwissenschaften) bezeichnen: Im Fokus sind dabei vor allem Gender Studies, aber auch andere Disziplinen, die sich mit Diskriminierung auseinandersetzen. Forscherinnen und Forscher, deren Publikationen nicht der Mehrheitsmeinung entsprächen, würden ausgegrenzt.
Das sind nur einige Beispiele, die in den letzten Wochen und Monaten diskutiert wurden. Die Diskussion verläuft immer ähnlich. Von rechts – aber nicht nur von rechts – wird gesagt, dass die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Man dürfe heute nichts mehr sagen. Der «Mohrenkopf» wird einem verboten, der Schwulenwitz auch. Auf der anderen Seite wird meist relativiert: Das Phänomen «political correctness» werde massiv übertrieben. Und im Übrigen sei es doch auch gut, dass rassistische Witze heute geächtet werden.
Nun gibt es für beide Seiten tatsächlich valide Argumente. Den politischen Gegner vom Sprechen abzuhalten, hat tatsächlich etwas Totalitäres – auch wenn ein Eierwurf noch keinen Gulag darstellt. Meinungsfreiheit ist nicht absolut: Das Gesetz gibt vor, was erlaubt ist. Aber wer sich innerhalb des Gesetzesrahmens bewegt, sollte diese Meinung auch äussern können. Protest dagegen ist allerdings auch legitim. Das ist alles nicht immer bequem, gehört aber zur Demokratie.
Mich ärgern gewisse Diskussionen um Empfindlichkeiten und Empfindsamkeiten ebenso. Nicht jeder sexistische Spruch ist ein Drama. Nicht jedes persönliche Versagen ist die Folge von Rassismus. Ein Werk muss auch im historischen Kontext gelesen werden. Ja, gewisse Diskussionen sind bemühend. Auch wenn ich den amerikanischen Diskurs aufmerksam verfolge, finde ich klar: Nicht jede Debatte muss importiert werden.
Snowflakes werden die (Über-)Empfindsamen genannt in den USA, Schneeflöckchen. Der Kampf gegen political correctness und den sogenannten Genderwahn ist zu einer potenten politischen Waffe der Rechten geworden. Viele Menschen glauben, dass die Meinungsfreiheit heute eingeschränkt sei. Das muss die Linke tatsächlich auch ernst nehmen, auch wenn ich kaum glaube, dass man als Linke WählerInnen gewinnen kann oder soll, deren Hauptanliegen es ist, rassistische Sprüche klopfen zu dürfen.
Was aber auch klargestellt werden muss: Viele der Anekdoten rund um ausser Rand und Band geratene PC-Studis an amerikanischen Universitäten sind aufgebauscht. Zum Beispiel die «Banh Mi»-Geschichte in Berlin. Eine Studentin verfasste dort für eine Studierendenzeitung eine Geschichte rund um das Essen in der Mensa. Einige Austauschstudierende hatten sich über die Qualität des Essens beklagt und insbesondere darüber, dass Dinge wie Sushi oder Banh Mi (ein vietnamesisches Sandwich) angeboten würden, die überhaupt nichts mit dem Original zu tun hätten. Ein paar Stimmen sagten, das sei kulturell nicht sensibel, ein paar andere fanden das nicht und die Mensa meinte, sie wolle das Essen verbessern. Eine ziemlich harmlose Geschichte halt. Verschiedene andere – insbesondere rechtsgerichtete – Publikationen machten daraus eine Geschichte von total durchgeknallten Studierenden, die gegen rassistisches Essen protestieren. Die Geschichte von weissen CollegestudentInnen, die Bücher einer ursprünglich kubanischen Autorin verbrannten, weil sie darin «weisse Privilegien» kritisierte, hingegen wurde nirgendwo gross erwähnt. Bei uns sowieso nicht.
Am vergangenen Samstag hielt die Klima-Aktivistin Miriam Hostetmann eine eindrückliche Rede an der Mitgliederversammlung der SP-Frauen. Die 19-Jährige ist für die Juso in Obwalden für den Nationalrat angetreten. In ihrer Rede erzählte sie auch, wie sie angefeindet und beschimpft wurde. Auf der Strasse, in der Migros, bei der Klimademo in Sarnen. Der ehemalige Fraktionspräsident der SP Andy Tschümperlin hatte Ähnliches erzählt aus Schwyz, wo er politisiert. Ich habe viele solcher Geschichten gehört von Linken vom Land. Dass niemand es wagt, zu kandideren. Dass man sich nicht outen wolle als SP-Mitglied. Dass man angefeindet werde, auch in der Nachbarschaft. Dass man sich nicht traue, in der Beiz oder an der Gemeindeversammlung frei zu sprechen. Auch das ist eine reale Einschränkung der Meinungsfreiheit. Genauso wie es eine Einschränkung ist, wenn sich Leute von den sozialen Medien verabschieden, weil sie da nur beschimpft und bedroht werden, wie dies Michael Blume, Beauftragter gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg getan hat. Viele Frauen, gerade feministische Aktivistinnen, haben ähnliche Geschichten zu erzählen: Sie werden im Netz beschimpft, ihre Adressen werden bekanntgegeben, sie werden bedroht, brauchen teilweise Polizeischutz. Im NZZ-Feuilleton lesen wir solche Geschichten aber fast nie.
Wir sind vielleicht empfindsamer geworden. Vielleicht sogar überempfindlich. Auf der anderen Seite scheint – auch, aber nicht nur im Netz – die Verrohung zugenommen zu haben. Soeben wurde bekannt, dass der Songtext einer Berner Band, den die Zürcher SVP-Regierungsrätin Natalie Rickli übel beleidigt und sexuell herabgewürdigt hat, vom Bundesgericht nicht als sexuelle Belästigung taxiert wird. Ich möchte keine juristische Diskussion führen. Klar scheint mir aber, dass Beleidigungen, Vergewaltigungsdrohungen, Beschimpfungen keine legitimen politischen Meinungsäusserungen sind. Anstand, Höflichkeit, Selbstkontrolle sind zivilisatorische Errungenschaften und kein Korsett. Nicht jeder emotionale Rülpser braucht die Öffentlichkeit. Beleidigungen – auch sexistischer oder rassistischer Art – sind kein Menschenrecht. Hier dürfen und müssen wir empfindlich sein. Denn es ist auch wichtig für die Demokratie, dass jeder ohne Angst seine Meinung äussern kann. Und Schneeflocken sind nun mal schöner als Kloaken.