Für viele politische JournalistInnen eine Sensation, für die meisten Mitglieder vermutlich keine so grosse Überraschung. Norbert Walter-Borjans, der ehemalige nordrhein-westfälische Finanzminister, von seinen Fans «Nowabo» genannt, und die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken wurden zu den neuen Parteivorsitzenden der SPD gewählt. Mit 53,6 Prozent der Stimmen schlugen sie Vizekanzler Olaf Scholz und die ehemalige brandenburgische Landtagsabgeordnete Klara Geywitz deutlicher als erwartet. Die meisten BeobachterInnen waren davon ausgegangen, dass die Mitglieder am Schluss dennoch murrend für Scholz und Geywitz votieren würden, um die Grosse Koalition zu erhalten. Denn lange hatte für die SPD die Doktrin gegolten, die der ehemalige Parteivorsitzende Franz Müntefering einmal so formulierte: «Opposition ist Mist. Das sollen die anderen machen.»
Damit ist jetzt wohl Schluss. Die Mitglieder haben genug. Denn obwohl die SPD auch als Juniorpartnerin einiges erreicht hat, in der Familienpolitik, bei den Renten und beim Mindestlohn, hat sich das Regieren elektoral nicht ausgezahlt. In den Meinungsumfragen ist die SPD heute bei rund 14 Prozent angekommen. Von Merkels CDU tödlich umarmt. Auch dem vormaligen Koalitionspartner, der FDP, war die Zusammenarbeit schlecht bekommen. Wohl ein Grund, warum sie nach den letzten Wahlen die gemeinsamen Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition mit den Grünen sabotierte. Mitregieren ist elektoral Mist, das sollen die anderen machen.
Jetzt also Esken und Borjans, die Favoriten von Juso-Präsident Kevin Kühnert, der sich selber nicht traute anzutreten. Borjans, der wie ein nüchterner Buchhalter wirkt und auch ein bisschen so klingt, war von Anfang an der Liebling der Juso, wurde auf der Mitgliedertour der SPD-Präsidiumskandidierenden frenetisch beklatscht. Seinen Ruhm hat er der Verwendung einer CD mit Namen von SteuerhinterzieherInnen zu verdanken, mit der er auch einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, das Schweizer Bankgeheimnis zu schleifen. Warum die Juso so eine Begeisterung für ältere Herren verspüren, ist etwas, was sich mir wohl nie erschliessen wird, aber es bestätigte sich auch hier. Auch Esken wirkt eher spröd. Die Parlamentarierin hatte sich bis jetzt vor allem als Digitalpolitikerin einen Namen gemacht. Kein Kernthema der Partei. Bis jetzt jedenfalls.
Die deutschen, aber auch die Schweizer Medien kommentierten die Wahl mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen. «Die Geisterfahrer der SPD», titelte die NZZ. «Die SPD ist auf einem gefährlichen Weg» der ‹Tages-Anzeiger›. In Deutschland klang es ähnlich. Mit Borjans und Esken sei die SPD auf dem Weg in die Selbstzerstörung, so der allgemeine Tenor. Carline Mohr, Leiterin der digitalen Kommunikation der SPD, twitterte am Sonntag sarkastisch: «Es gab ja nur zwei Optionen: ‹Mutlos und blass: Taumelnde SPD will sich nicht erneuern, wählt Geywitz/Scholz und zerstört sich selbst.› Oder: ‹Unerwartet und gefährlich: Taumelnde SPD will nicht mehr regieren, wählt die Greenhorns Nowabo/Esken und zerstört sich selbst.›»
Die journalistische, ja fast allgemeine Lust am Abgesang auf die SPD, an der Zerstörung der Sozialdemokratie ist befremdlich. Gerade in einer Zeit, in der die demokratischen Werte bei Weitem nicht mehr so selbstverständlich scheinen wie auch einmal, sollte man eine Partei mit solider demokratischer Tradition und grossen politischen Verdiensten für die moderne Bundesrepublik (das gilt im Übrigen auch für die Christdemokratie) nicht so einfach sang- und klanglos abtun. Die Sozialdemokratie hat auch nicht einfach ihre historische Aufgabe erfüllt, nur weil es heute einen Sozialstaat gibt. Es ist ja nicht so, dass Armut und Ungleichheit – auch in Deutschland – einfach verschwunden sind. Es ist auch nicht so, dass das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft für alle wirklich funktioniert. Und schon gar nicht, dass dies in Zukunft so gegeben wäre.
Auch parteiinterne Demokratie wird offensichtlich immer weniger vertragen. Die Präsidiumsausmarchung mit einer ausgedehnten Tour in die Basis der antretenden Duos (P.S. berichtete) nennt Benedict Neff von der NZZ «quälend langer Wettbewerb». Als ob es den Mitgliedern einer Partei nicht zuzumuten ist, ihre künftige Führung näher kennen zu lernen. Als ob es für eine Partei nicht auch belebend sein kann, wenn mehrere unterschiedliche Konzepte miteinander im Wettbewerb stehen. Weil doch von Anfang an – so offenbar die Meinung der KommentatorInnen – feststeht, wer es machen muss.
Auch ich finde eigentlich, dass Opposition Mist ist. Es muss ein politisches Ziel sein, zu gestalten, konkret etwas zu erreichen, das Leben der Menschen real zu verbessern. Im Parlament zu motzen ist einfach, aber letztlich wenig befriedigend. Dennoch hätte ich als SPD-Mitglied Esken / Borjans gewählt, auch wenn sie nicht meine FavoritInnen waren. Denn einen Niedergang einfach zu verwalten ist genauso Mist.
Das Problem der SPD war nicht die fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, was man den Juso vielleicht ab und an vorwerfen könnte. Es war auch nicht der fehlende Pragmatismus. Sondern, dass die SPD wenig zu bieten hatte, was darüber hinausgeht.
Das schreibt auch Christian Bangel in der ‹Zeit›, in einem der wenigen freundlichen Artikel zum neuen Führungsduo: «Nur spricht wirklich wenig dafür, dass die Wählerinnen und Wähler sich von der SPD abgewandt haben, weil sie zu viele linke Visionen hat. Schon eher, weil kaum irgendwo der Versuch zu sehen ist, das erst mal undenkbar Erscheinende in den Bereich des Möglichen zu holen.» Das brauche es aber, um den Klimawandel zu stoppen, die Explosion der Mieten aufzuhalten, die soziale Ungleichheit zu besiegen: «Wer braucht eine Partei, die in Anbetracht dieser Brandherde nur bedauert, dass der Feuerlöscher leider hinter einer Glasscheibe hängt?»
Es wird – auch wenn über die SP Schweiz gesprochen wird – stets von zwei Flügeln gesprochen, einem linken und einem rechten. Fantasten gegen Pragmatikerinnen. Meist, um zu sagen, dass erstere die Partei in den Abgrund führen. Dabei braucht die Sozialdemokratie stets beides: Die Vision wie eben auch die Fähigkeit, sich dieser schrittweise und pragmatisch zu nähern.
Die SPD hat viele Fehler gemacht. Das Personal ist nicht taufrisch. Die Partei verströmt einen Geruch von Mief und Verzweiflung. Und dennoch, wie Christian Bangel schreibt: «Noch immer ist dieser Tanker die einzige reale Hoffnung auf eine Politik der frischen Luft. Eine Politik, die nicht immer weiter nach rechts drängt, sondern die die grosse linke Mitte anspricht.»