«Bei der Arroganz, die hinter dieser Initiative steckt, wird mir fast schlecht.» Das meinte Bundesrat Ueli Maurer zur Konzerninitiative in einem Live-Video zur SVP-Basis. Warum wird Maurer schlecht? Darum: «Mit dieser Initiative sagen wir: Wir sind moralisch die Besten, wissen weltweit, wie es geht. (…) Es passt doch nicht zur Schweiz, dass wir auf der ganzen Welt moralisieren.» Auch seine Kollegin Bundesrätin Karin Keller-Sutter sinniert gerne über Moral. So beispielsweise in der NZZ: «Mich irritiert dieses zunehmend Moralisierende: Moralisch richtig liege immer ich, und alle anderen liegen falsch. Das ist ein Totschlägerargument. Dieser neue, selbstgerechte Moralismus hat fast alle Bereiche erfasst: Politik, Wirtschaft, Ökologie, Gleichstellung.» Gänzlich verärgert ist Keller-Sutter über die Idee, das Christentum könne was mit Moral zu tun haben: «Ich war immer eine treue Katholikin, aber offensichtlich bin ich jetzt keine gute Christin mehr, wenn ich nicht für die Konzernverantwortungsinitiative bin.» Das bewegt auch CVP-Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger, die zusammen mit anderen Frauen einen offenen Brief an die Kirche schrieb. Darin klagte sie, die Kirchen würden in gute und schlechte Christinnen unterteilen. Die Behandlung der Initiativgegnerinnen sei der derart ungebührlich, dass sie sie an «Hexenverbrennungen» erinnert, wie sie in einem Interview mit kath.ch ausführte.
Nun kann man finden, dass die Kirchen sich tagespolitisch zurückhalten müssten oder ihr Geld nicht für Abstimmungskampagnen ausgeben sollten. Aber es mutet seltsam an, von den Kirchen zu erwarten, dass sie sich nicht zum Thema Moral äussern sollen. Oder zur Vorstellung von einem rechtschaffenen Leben oder was einen guten Christenmenschen ausmacht. Scheint mir ja eher zum Kerngeschäft zu gehören.
Zudem dachte ich ja immer, dass Moral und Moralisieren im Zentrum konservativer Überzeugungen steht. Schon Cicero beklagte im alten Rom: «O tempora, o mores» – was für Zeiten, für Sitten. Die Klage des Sittenzerfalls bedingt ja eine Vorstellung von Sittlichkeit. War es nicht einmal die Linke, die sich gegen eine erdrückende christliche Moral zur Wehr gesetzt hat? So heisst es in Brechts Dreigroschenoper: «Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben / Und Sünd und Missetat vermeiden kann /Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben / Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.» Erst müssen die materiellen Bedürfnisse gedeckt werden, bevor man sich den Luxus einer Moral leisten kann.
Nichts scheint jetzt den Konservativen und Bürgerlichen heute aber so suspekt wie die Moral. «Ein guter Mensch sein! Ja, wer wär’s nicht gern?» Fragt Peachum in der Dreigroschenoper. Doch leider, so sein Fazit: «Die Verhältnisse, sie sind nicht so.» Verfolgt man die Diskussion zur Konzernverantwortungsinitiative könnte man meinen, es sei das schlechteste überhaupt, ein guter Mensch zu sein. Das hat auch taktische Gründe: In einem Strategiepapier der Economiesuisse, so berichtete der ‹Tages-Anzeiger›, habe diese selber festgestellt, dass es schwierig sei, die Initiative auf einer sachlichen Ebene zu bekämpfen, weil argumentativ nicht viel gegen das Anliegen spreche. Darum versucht die Gegenkampagne in erster Linie, rechtliche Unsicherheit zu stiften, und zum zweiten den Leuten zu ermöglichen, mit gutem Gewissen Nein zu stimmen. Dabei ist natürlich immer hilfreich, wenn man gar nicht erst gross ein Gewissen hat. Und sonst werden eben jene diskreditiert, die einem ein schlechtes Gewissen machen: die Gutmenschen, die Kirchen, die Hilfswerke.
Doch, wenn es nicht die Moral ist, was steht denn im Zentrum konservativer Überzeugungen? Zwei Überlegungen: Der amerikanische Moralpsychologe Jonathan Haidt unterscheidet sechs moralische Prinzipien. Fürsorge, Freiheit und Fairness, diese Prinzipien fänden sich in allen Kulturen, wie der Philosophieprofessor Philipp Hübl diese Prinzipien in einem Essay in der NZZ erklärt. Diese seien aber bei den Progressiven mehr verankert als bei Konservativen. Bei diesen stehen drei andere Prinzipien im Zentrum: Loyalität, Autorität und Reinheit. Loyalität als Gefühl der Treue zu einer Gruppe. Autorität im Sinne von Hierarchie, aber auch von Respekt und Anerkennung. Bei der Frage der Reinheit steht eine Abwehr gegenüber dem im Zentrum, was als unnatürlich oder eklig betrachtet wird. Das ist auch meist das Fremde und Unbekannte. Man könne, meint Hübl, mit einem Appell an Mitgefühl den Ekel und die Abwehr übertrumpfen. Vielleicht wird auch deswegen gegen allfälliges Mitgefühl gekämpft.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Corey Robin sieht die Ideologie der Konservativen in seinem Buch «Der reaktionäre Geist von Edmund Burke bis Donald Trump» in erster Linie als Abwehrreaktion gegen den sozialen Fortschritt. Immer wenn bisher Entrechtete neue Rechte und Fortschritte erzielten, wehren sich konservative Bewegungen. Im Zentrum dabei steht der Machterhalt oder die Angst vor dem Machtverlust. Konservative Bewegungen seien dabei nicht bewahrend, sondern konterrevolutionär. Robin wird auch dafür kritisiert, dass er alle möglichen Strömungen vom Neoliberalismus bis zu den Evangelikalen in einen Topf wirft, was wohl tatsächlich reichlich kühn ist. Schaut man aber die Konzernverantwortungsinitiative an, so hat die Argumentation durchaus was.
Denn es geht auch um eine Frage des Machterhalts. Man will den kongolesischen Minenarbeiter oder der burkinischen Baumwollpflückerin weder mehr Rechte noch mehr Mittel zugestehen, selbst wenn die Ungleichheit der Spiesse auch nach einer Annahme der Initiative immer noch gewaltig wäre. Und damit überzeugen sie längst nicht nur jene, die wirklich ein wirtschaftliches Interesse haben, sondern auch jene, die ihre Loyalität eben nicht bei ausländischen Arbeitenden, sondern bei den Einheimischen sehen. Und seien es auch die Vertreter der wirtschaftlichen Elite.
So oder so: Die Abstimmung wird knapp. Und bei aller Verwirrung und Nebelpetarden darf nicht vergessen werden: Es geht hier nicht um eine komplizierte Frage und auch nicht (nur) um Moral. Sondern um Recht und Gerechtigkeit und die Überzeugung, dass sich daran alle halten müssen. Denn warum sollten ausgerechnet Grosskonzerne von ausländischen Geschäften zwar profitieren, aber nicht Verantwortung übernehmen, wenn sie selber gegen internationales Recht verstossen. Zumal ja von uns Normalos erwartet wird, dass wir uns an Gesetze halten. Fressen und Moral. Es braucht beides. Vielleicht klappt es dann auch mit dem Gut-Sein.