Soeben ist die deutsche Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht «The hill we climb» erschienen. Die junge Poetin hatte es anlässlich der Inauguration von Joe Biden vorgetragen. Rund um Gormans Gedicht ist eine grössere Kontroverse ausgebrochen. Im Mittelpunkt stehen aber weder Gorman noch ihr Gedicht, sondern die Übersetzung. Sowohl in den Niederlanden wie auch Spanien wurde die Wahl der ÜbersetzerInnen als unpassend kritisiert, der Auftrag wäre besser an eine Woman of color gegangen. Daniel Graf erzählt die Geschichte in einem lesenswerten Artikel in der ‹Republik› gut nach, so dass ich hier auf Ausführlichkeit verzichte. An dieser Kritik wurde dann wiederum kritisiert, dass ja wohl die Hautfarbe kein Kriterium für einen Übersetzungsauftrag sein könne. Worauf wieder eingeworfen wurde, dass es nicht um die Hautfarbe ginge, sondern um eine Frage der Repräsentanz im Literaturbetrieb und wer Aufträge erhalte und wer nicht.
Die ganze Kontroverse berührt einmal mehr eine Grundsatzfrage, die in den letzten Jahren immer wieder diskutiert wird und auch nicht unberechtigt ist. Ist die Frage von Repräsentanz und Identität ein Problem für den Universalismus, der im Kern linker und fortschrittlicher Politik ist? Oder ist linke Identitätspolitik ein Eintreten für einen Universalismus, der eben noch nicht vollendet ist, solange nicht alle Menschen gleiche Rechte haben? Dafür steht auch Gorman in ihrem Gedicht, wenn sie von einer Nation spricht, «die nicht zerbrochen ist, nur unvollendet.» Zu schaffen gelte es «ein Land für Menschen aller Art, jeder Kultur und Lage, jeden Schlags.» In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht, «dass folgende Rechte wir als selbstverständlich erachten: dass alle Menschen gleich geschaffen sind und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet sind, dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.» Die Menschen, die «men», die der Verfasser Thomas Jefferson meinte, der selber auch Sklaven besass, waren allerdings nicht alle Menschen, sondern freie weisse Männer. Und dennoch kann der Satz auch als Versprechen verstanden sein, dass eben doch alle Menschen und wirklich alle Menschen frei, gleich und glücklich sein dürfen. Der Kampf von Minderheiten für ihre Rechte ist tatsächlich das Pochen auf das Einlösen dieses Versprechens und damit universell. Aber das wird nicht immer universell so verstanden und wirft auch Fragen auf. Wenn man doch für Gleichheit ist, warum stellt man die Differenz ins Zentrum? Kann ich mich für etwas einsetzen, was ich nicht selbst erlebt habe und was mich nicht betrifft, soll ich es überhaupt? Ist es überhaupt erwünscht? Verliert man ob all den Identitäten und all den berechtigten Anliegen und Kämpfen nicht doch den Blick aufs grosse Ganze?
Die Amerikanerin Heather McGhee hat mit «The Sum of us. What Racism costs all of us and how we can prosper together» (Die Summe von uns allen, was Rassismus uns alle kostet und wie wir gemeinsam vorankommen) ein Buch geschrieben, das die Frage ins Zentrum stellt, wie Rassismus bekämpft und gleichzeitig eine vereinende, universelle Politik für alle Menschen gefunden werden kann. Das Problem ortet McGhee in einer Nullsummenlogik, die tief in der amerikanischen Geschichte verwurzelt ist. Minderheiten können in dieser Logik nur etwas gewinnen, wenn die Mehrheit etwas verliert. Die Geschichte Amerikas ist eine Geschichte der Ausbeutung von Schwarzen und amerikanischen UreinwohnerInnen. Es ist auch die Geschichte einer Ideologie, in welcher eine Hierarchie der Rassen jene der Klassen überschattet. Wer arm und weiss war, war zwar arm, aber immerhin weiss und daher den anderen überlegen. Diese Hierarchie gab es selbst im Zeitalter des «New Deals», der Hochzeit des amerikanischen Sozialstaats. Der New Deal führte zu einem Aufstieg der Mittelklasse, aber in erster Linie einer weissen Mittelklasse, da diverse Leistungen ihnen vorbehalten waren.
Das war der Kompromiss, den Franklin D. Roosevelt mit den rassistischen Südstaaten-Demokraten machen musste. Erst im Rahmen der Bürgerrechtsbewegungen in den 1950er- und 1960er-Jahren wurden Diskriminierungen und die Rassentrennung aufgehoben. Was aber neue Probleme mit sich brachte. McGhee bringt dazu ein anschauliches Beispiel. Im Zeitalter des New Deals wurden in vielen Orten der USA Badeanstalten gebaut, die gratis waren. Schwarze waren aber nicht zugelassen. Als sich Schwarze das Recht erkämpften, auch ins Schwimmbad zu gehen, legten gewisse Gemeinden die Schwimmbäder ganz still. Sie schlossen Bäder, Pärke und Gemeinschaftszentren, weil sie es offenbar besser fanden, wenn keiner was kriegte, als diese Errungenschaften zu teilen. Diese Nullsummenlogik erkläre, warum die USA einen schlecht ausgebauten Service public und Sozialstaat hätten. Weil sie die Leute dazu bringt, dass sie lieber selber verzichten, als zuzulassen, dass die vermeintlich Falschen profitieren. Am Schluss leiden alle, aber einige wenige profitierten. Wie schon in den Südstaaten während der Sklaverei, wo zwar einige Plantagenbesitzer immensen Reichtum hatten, alle anderen Menschen aber in bitterer Armut lebten. Rassismus schadet also allen, selbst den Rassisten. Es brauche daher, so McGhee, eine Strategie, die den Rassismus anspreche und bekämpfe, aber auch aufzeige, dass von einer solidarischen Gesellschaft und einem gemeinschaftlichen Handeln über die Grenzen von Hautfarben, Geschlecht oder anderen Unterschieden alle profitieren.
Das mag auf den ersten Blick wenig mit der Schweiz zu tun haben. Ist unsere Geschichte doch anders, unser Service public stärker und unsere Politik weniger polarisiert. Doch die Nullsummenlogik ist auch bei uns verbreitet – wenn man Schwarz und Weiss durch In- und AusländerInnen ersetzt. Kürzungen, Schikanen und Auflagen bei Arbeitslosenversicherungen, IV und Sozialhilfe sind sehr stark von einer Nullsummenangst geprägt: Lieber für alle weniger, als dass es am Schluss noch den Falschen (also faulen Ausländern) zugutekommt. Auch bei der Gleichstellung glauben viele, dass jeder Fortschritt für Frauen einen Rückschritt für Männer bedingt. Linke und fortschrittliche Politik darf kein Nullsummenspiel sein. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle gewinnen. Der Universalismus und öffentliche Güter spielen dazu eine entscheidende Rolle: Volksschule, Sozialwerke, öffentlicher Verkehr, Wasserversorgung oder Badeanstalten leben davon, dass sie sowohl Teil unseres Alltags wie auch klare Rechte sind, die wir allen zugestehen wollen. So entsteht Gemeinschaft. Und wir brauchen mehr davon, gerade wenn wir die grossen Probleme unserer Gegenwart und Zukunft lösen wollen.