Hat die Pandemie ein Geschlecht?

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Helen Lewis schrieb noch relativ zu Beginn der Corona-Pandemie einen vielbeachteten Artikel in «The Atlantic» zu den Auswirkungen von Corona auf die Frauen. Corona, so Lewis, sei eine Katastrophe für den Feminismus und werfe die Frauen um Jahrzehnte zurück. Denn die Pandemie habe die Abmachung vieler Paare infrage gestellt, wonach beide erwerbstätig sein können, weil jemand anderes auf die Kinder schaut. Was ist dran an Lewis’ These?

 

Die Covid 19-Pandemie betraf im Vergleich zu anderen Rezessionen die Frauen wirtschaftlich stärker. Herkömmliche Wirtschaftskrisen betreffen vor allem männerdominierte Branchen wie den Bau oder die Exportwirtschaft. In einer Pandemie beziehungsweise im Lockdown sind aber stärker die Branchen betroffen, in denen viele Frauen arbeiten, wie die Gastronomie, der Detailhandel oder die Körperpflege. Das hat auch eine Studie des IZA (Institute of Labor Economics) ergeben. ÖkonomInnen sprechen gar von einer «Shecession» also einer «Siezession» statt einer Rezession. 

 

Zusätzlich war die Pandemie für viele Familien eine enorme Herausforderung: Die Grosseltern fielen für die Betreuung aus, Schulen und Kitas wurden geschlossen. Das hatte Auswirkungen auf die Frauen, die immer noch mehrheitlich für die Betreuung von Kindern verantwortlich sind. Diese Auswirkungen, das besagt auch die Studie des IZA, führen zu einer Vergrösserung des Geschlechtergrabens und verstärken die ungleiche Verteilung der unbezahlten Arbeit in Betreuung und Haushalt. In der Schweiz war dieser Effekt allerdings weit weniger stark. Das führte die Ökonomin Jana Freundt am Caritas-Armutsforum von letzter Woche aus, das sich der Frage der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Frauen gewidmet hatte. Zwar gab es in milderer Form auch eine Art «Siezessesion». Vieles wurde aber durch die Kurzarbeit abgefedert. Frauen haben aufgrund von Betreuungspflichten auch ihre Erwerbsarbeit reduziert, aber weniger als erwartet. Im internationalen Vergleich steht die Schweiz sogar überdurchschnittlich gut da. Die Vermutung liegt nahe, dass dies daran liegt, dass in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland und den USA die Schulen und die Kitas nur für kurze Zeit geschlossen blieben.

 

Wesentlicher war wohl eher die Frage der Schicht, als die des Geschlechts, auch wenn Armut auch eine geschlechtsspezifische Komponente aufweist. Das vielbesprochene Home-Office war nicht für alle Realität. Für Leute mit guten Jobs war die Pandemie teilweise gar entspannend, mindestens im ersten Lockdown, wie ich bestätigen kann. Menschen mit tiefem Einkommen und prekären Arbeitsbedingungen hingegen, darunter auch viele Frauen, wurden von der Krise viel mehr getroffen. Das meint auch die Ökonomin Isabel Martinez im Magazin «Nachbarn» der Caritas Zürich: «Haushalte mit tiefen Einkommen haben in der Corona-Krise höhere Einkommensausfälle als finanziell besser Gestellte. Im Durchschnitt mehr als 20 Prozent gegenüber acht Prozent bei besser Verdienenden. Sie mussten auch viel häufiger Erspartes auflösen. Viele verschuldeten sich gar.» Die Pandemie hat also schon bestehende Ungleichheiten massiv verschärft. Wir alle haben wohl noch die Bilder im Kopf von den Schlangen, die sich vor Lebensmittelausgaben bildeten. Die Wirkung von Covid 19 auf die Geschlechter war auch medizinisch unterschiedlich. Männer sind häufiger von schweren Verläufen betroffen. Frauen hingegen haben häufiger Long-Covid. Schwierig war auch die Situation für schwangere Frauen, die als Risikogruppe eingestuft wurden, aber für die eine Impfung lange nicht empfohlen wurde. Für eine abschliessende Beurteilung der Auswirkungen fehlen teilweise auch die Daten und die entsprechende Forschung.

 

Was werden die Folgen der Krise sein? Es ist einfach, sich ein pessimistisches Szenario auszudenken. Dass soziale Ungleichheiten in der Krise grösser wurden, die ungerechte Verteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit noch grösser wird. Dass die Frauen dadurch weiter zurückgeworfen werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine tiefgreifende Krise zu einer konservativen Neuorientierung führt. Das muss nicht einmal eine politische Frage sein. Es kann auch eine Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Privaten, zum Unpolitischen, zum Harmonischen sein. Nach der ständigen Anspannung und vergifteten Diskussionen rund um Corona, die Impfung und das Zertifikat, was zwar nicht die ganze Gesellschaft, aber doch viele Familien spaltete, kann ich nachvollziehen, dass man sich lieber eine Weile ins Private zurückziehen möchte, wenn diese Pandemie endlich überstanden ist. Wieder mehr Zeit zu haben für Geselliges, für Kultur, für Reisen statt für anstrengende Diskussionen scheint auch für mich verlockend.

 

Ich bin überzeugt, dass es diesen Rückzug, diesen Push ins Private und Apolitische geben wird. Aber das muss nicht zwingend einen konservativen Backlash mit sich bringen. Man könnte sich durchaus auch vorstellen, dass die Pandemie tatsächlich einigen vor Auge geführt hat, dass soziale Netze einen Wert haben, der Staat auch die Aufgabe hat, Menschen davor zu bewahren, durch alle Maschen zu fallen. Dass die sogenannte Sorgearbeit, also die Arbeit, sich um andere Menschen zu kümmern, sie zu pflegen und zu betreuen einen besonderen Wert hat, der bis dato unterschätzt wurde. Auch über faule LehrerInnen wird wohl weniger gelästert, seit dem einige die Erfahrung machten, wie es ist, Kinder selber unterrichten zu müssen. Viel wurde gesagt übers Klatschen für das Pflegepersonal und dass es als Wertschätzung nicht ausreicht. Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung scheint diese Meinung auch zu teilen, wenn man den Umfragewerten zur Pflegeinitiative glauben darf. 

 

Vielleicht hat man tatsächlich auch das eine oder andere aus der Pandemie gelernt. Vielleicht ist man ja nicht verdammt dazu, alle Fehler zu wiederholen. Zum Beispiel über neue Arbeitsweisen. Dass Home-Office guten Seiten hat, aber nicht unbedingt, wenn gleichzeitig Kinder zu betreuen sind. Dass man physische Versammlungen und Sitzungen vermissen kann, aber auch Videokonferenzen ihre Vorteile haben. Weil sie inklusiver sein können. Weil die Anreise wegfällt beispielsweise oder weil es nicht nötig ist, eine Betreuung zu organisieren. Ob sich das pessimistische oder das optimistische Szenario bewahrheiten wird, liegt auch an allen. Die Couch kann warten, die Arbeit ist noch nicht getan.

 

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