Gut für alle

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1928 sorgte eine überdimensionale Schnecke mit dem provozierenden Namen «Fortschritte des Frauenstimmrechts in der Schweiz» anlässlich der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA für Aufsehen. Bekanntlich wurde das Frauenstimmrecht erst 1971 eingeführt. Das Symbol einer Schnecke für Fortschritte in Frauenfragen hat nichts an Aktualität verloren. Tatsächlich scheint Gleichstellung in der Schweiz nur im Schneckentempo voranzukommen. Auch darum hat wohl eine Rekordzahl von Frauen am Frauenstreik 2019 teilgenommen.

 

Nehmen wir das Beispiel Kinderbetreuung. Zwar wird von allen Seiten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beschworen, und sogar der Arbeitgeberverband fordert mehr Betreuungsplätze. Aber wie so häufig: Nur weil Handlungsbedarf anerkannt wird, heisst es noch lange nicht, dass wirklich gehandelt wird. Natürlich ist nicht nichts passiert. Schliesslich kommt auch eine Schnecke vorwärts. Als ich 2002 im Zürcher Gemeinderat angefangen habe, waren Wartelisten in den Kitas noch weit verbreitet. Seit der Verankerung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz in der Gemeindeordnung in der Volksabstimmung 2005 ist aber viel gegangen. Es gibt mittlerweile genügend Betreuungsplätze und auch subventionierte Plätze. Teilweise ist schon fast von einem Überangebot die Rede. Dennoch ist auch in der Stadt Zürich nicht alles optimal, wie dies die Gemeinderatsdebatte von letzter Woche gezeigt hat (P.S. berichtete).

 

In der Schweiz werden im OECD-Vergleich relativ wenig öffentliche Mittel für Kinderbetreuung ausgegeben. Das hat eine Studie der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen ermittelt. Die Schweiz gibt rund 0,4 Prozent des BIP für Kinderbetreuung aus, dabei ist der Kindergarten inbegriffen. In den skandinavischen Ländern sind es rund zwei Prozent, der OECD-Durchschnitt liegt bei rund 0,8 Prozent. Die Hauptlast der Finanzierung liegt vielerorts bei den Eltern. Das zeigt sich dann auch bei den Kosten: Diese sind von Gemeinde zu Gemeinde, Kanton zu Kanton unterschiedlich und teilweise sehr hoch. Eine Studie der Credit Suisse zeigt dies auf. Eltern mit hohem Einkommen zahlen in Zürich 130 Franken pro Tag. In Bellinzona hingegen nur 70 Franken. Wer schlecht verdient, zahlt in Genf fünf Franken pro Tag, im Kanton Schwyz hingegen rund 80 Franken. Beides ist ungünstig: Für die gut ausgebildeten Paare gibt es negative Erwerbsanreize, was den Fachkräftemangel verstärkt. Menschen mit kleinem Einkommen verzichten aus finanziellen Gründen auf die Kita. Dabei zeigen Studien, dass frühe Bildung und Förderung die Chancengleichheit verbessern kann. Diese ist aber auch abhängig von der Betreuungsqualität. Eine Investition in die Kinderbetreuung ist eine Investition in die Zukunft: Sie sorgt für eine bessere Chancengleichheit und bessere Bildungschancen für benachteiligte Kinder. Und: Kinder brauchen Kinder: Das gemeinsame Spielen und Aufwachsen ist für die Kinder eine Bereicherung.

 

Kinderbetreuung ist eine anspruchsvolle und auch anstrengende Aufgabe. Wie bei vielen typischen Frauenberufen ist aber auch hier der Lohn gering und die Anerkennung klein. Viele Kitas setzen auch aus finanziellen Gründen auf Praktikantinnen und Praktikanten und verzeichnen eine hohe Personalfluktuation. Die Arbeitsbedingungen sind aber auch für die Qualität und Kontinuität wichtig. Umso unverständlicher ist es, dass sich der Branchenverband Kibesuisse aktiv gegen Gesamtarbeitsverträge wehrt.

 

Die SP will mit einer breit abgestützten Initiative jetzt im Bereich Kinderbetreuung vorwärtsmachen. Die Initiative will einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz verankern und die Kantone verpflichten, dass sie genügend Plätze in guter Qualität anbieten, ab dem Ende des Mutterschaftsurlaubs bis zum Ende der obligatorischen Schulpflicht. Sie will die Betreuungskosten für die Eltern senken, indem die maximalen Kosten nicht zehn Prozent des Einkommens überschreiten dürfen. Und die Initiative will die Arbeitsbedingungen und Löhne der Angestellten verbessern.

 

Kitas sind nicht ein Luxus, sie sind ein Teil der öffentlichen Infrastruktur. So begründete auch Mitte-Nationalrat Martin Landolt seine Unterstützung. «Grundversorgung ist eben eine staatliche Aufgabe. Und eine zahlbare Kinderbetreuung in allen Regionen gehört eben auch zur Grundversorgung.» Wenn man sich, so Landolt, Poststellen auch in den Randregionen leisten will, dann sei es nicht einsichtig, warum das nicht auch für Kinderbetreuung gelten soll.

 

In einem der vielen Artikel, der die armen SP-Männer bedauerte, meinte Hubert Mooser mit Verweis auf unbekannte gestandene SP-Grössen, die Parteileitung habe den Kompass verloren, wenn sie auf Kitaplätze setze: «‹Wenn Krippenplätze inzwischen die grösste Sorge und das wichtigste Geschäft der SP  sind›, sagt ein deswegen genervter SP-Vertreter, ‹na dann, gute Nacht.›» Nun könnten gestandene SP-Grössen in ‹Weltwoche›-Artikeln auch Fiktion sein. Vielleicht gibt es sie ja auch, die kritischen Stimmen. Einige davon haben sich ja auch nach jüngsten Wahlniederlagen vernehmen lassen, die SP setze zu wenig auf die ökomischen Brot- und Butter-Themen und zu viel auf woke Lifestyle-Themen. Das ist zum einen empirisch fragwürdig: Politikwissenschaftliche Studien (siehe auch P.S.-Interview mit Tarik Abou-Chadi vom 17. September 2021) sagen eher aus, dass sozialdemokratische Parteien an linke und grüne Parteien verloren haben und nicht nach rechts. Zum anderen ist aber die Kinderbetreuungsfrage ein ganz klassisches Brot- und Butterthema, das die Bedürfnisse von Familien ins Zentrum stellt und sie finanziell gezielt entlastet. Zudem würden mit der Aufwertung der Kinderbetreuungsberufe ja eben genau auch Niedrigverdienende gestärkt. Mooser deutet die Lancierung der Initiative als Zeichen, dass sich die Frauen mit ihren Anliegen in der SP besser durchsetzen können. Es ist allerdings auch bezeichnend, dass er davon ausgeht, dass Kinderbetreuung ein reines Frauenanliegen ist.

 

Vielleicht ist die Schnecke auch nicht das richtige Symbol für Gleichstellungspolitik. Weil eine Schnecke immerhin kontinuierlich vorankommt und am Ende ihr Ziel erreicht. Dabei ist es eher eine Geschichte von Fort- und Rückschritten, Nebengleisen und Wiederholungen. Die Hoffnung bleibt, dass es letztlich vorwärts geht. 

 

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