Der Historiker Timothy Snyder hat mit «The road to unfreedom» (Der Weg in die Unfreiheit) einen Bestseller der Trump-Ära geschrieben. Darin beschreibt er den Prozess des Abgleitens in einen autoritären Staat. Das Buch hat allerdings eine erstaunliche Aktualität, denn es geht zu einem nicht unwesentlichen Teil auch um Russland. In einem Podcast mit dem ‹New York-Times›-Journalisten Ezra Klein spricht er unter anderem darüber, warum die Gefahr, die von Russland ausgeht, in den letzten Jahren unterschätzt wurde. Snyder konstatiert im Westen eine falsche Vorstellung der «Unvermeidlichkeit» oder der «Alternativlosigkeit» (Margaret Thatcher), die sich seit dem Mauerfall verbreitet hätte. Also der Vorstellung, es gäbe einen mehr oder weniger unvermeidlichen Prozess der Entwicklung, der am Schluss bei der demokratischen Gesellschaft lande. Und alle Probleme, wie beispielsweise grosse Ungleichheit durch ungezähmten Kapitalismus, sozusagen notwendige Übel seien, die später automatisch überwunden würden. Das führe dazu, dass man sich im Westen eigentliche Alternativen gar nicht mehr denken könne und darum überrascht sei, wenn nun jetzt Russland eine fundamental andere Sichtweise einnehme. Das Problem im Westen sei generell, dass man sich letztlich kaum mehr eine Zukunft vorstellen könne, die sich von der Gegenwart unterscheidet. Beziehungsweise höchstens eine etwas bessere oder schlechtere Ausgabe der Gegenwart darstelllt.
2016 hatte ich einen kurzen Gastauftritt in einem Theaterstück namens «Zurück in die Zukunft». Darin ging es unter anderem darum, eine positive Zukunftsvorstellung einer Welt im Jahre 2070 zu entwickeln. Es war keine einfache Aufgabe und ich habe sie auch nicht sonderlich gut gelöst.
Die Frage der fehlenden Vorstellung einer besseren Zukunft ist vielleicht eine der Antworten auf die Frage, warum die SP verliert. Dazu ist in letzter Zeit und in den letzten Jahren einiges spekuliert worden. Manche Erklärungen sind letztlich auch trivial, aber deswegen nicht zwingend falsch: Die Grosswetterlage erklärt genauso einiges wie politische Angebote, die es früher nicht gab. Das Schwächeln sozialdemokratischer Parteien ist allerdings ein relativ breites europäisches Phänomen mit unterschiedlichen Ausprägungen: Während die Lage in Frankreich noch katastrophal bleibt, konnte die SPD mittlerweile wieder Erfolge feiern.
In der Schweiz war in den vergangenen Nationalratswahlen und den darauffolgenden kantonalen Wahlen vor allem von einer grünen Welle die Rede. Seit 2022 würden aber die Verluste der SP nicht einfach mehr durch die Grünen kompensiert, meint der Politologe Claude Longchamp in einem Blogbeitrag. Es gäbe einen Trend ins Zentrum sowohl von links wie auch von rechts. Bei den Grünen sei es einfach eine unterschiedliche Gewichtung der Lösung ökologischer Probleme, bei der SP «ist diese Analyse weniger einfach, aber möglich. Denn der Wechsel von Wählenden hin zur GLP ist zwar im SP-Denken verpönt, kommt aber insbesondere bei jüngeren Menschen vor. Da gibt es weniger gefestigte Parteibindungen, aber Präferenzen aufgrund der aktuellen Lage. Sachbezogen reicht das denkbare Spektrum von der Umwelt- bis zum Europa-Thema». Politgeograph Michael Hermann glaubt, die SP hole die Leute nicht bei «ihrem Lebensgefühl» ab, wie er gegenüber dem ‹Tages-Anzeiger› sagte.
‹Nebelspalter›-Chefredaktor Markus Somm hat der SP ein besorgtes Memo eines Liberalen gewidmet. Um zu gewinnen, müsse sich die SP von den Grünen abgrenzen. Und zwar indem sie sich auf ihr Alter besinne: «Die SP ist eine erfahrene Regierungspartei, sie war schon im Amt, als die Grünen sich noch nicht einmal im embryonalen Zustand befanden.» Darum sei es nötig, erwachsene Kräfte ins Zentrum zu stellen wie etwa Erich Nussbaumer, Eva Herzog, Daniel Jositsch oder Flavia Wasserfallen. Das wolle nämlich der Wähler oder die Wählerin: «Der typische SP-Wähler ist nicht der unterbeschäftigte Student aus reichem Haus, dem es langweilig geworden ist, sondern ein engagierter Gymnasiallehrer über 50 oder eine Beamtin, die das Land gestalten, aber nicht in die Luft sprengen will.»
Samuel Tanner meinte in der NZZ, die SP sei zu fest in Abwehrkämpfen beschäftigt: «Die SP hat zuletzt – wie die SVP auf der anderen Seite – viele Ressourcen in die Verneinung von Politik investiert. (…) Die Verneinung ist der unkompliziertere Teil der Politik: Gegen eine Bedrohung ist es leichter zu mobilisieren als für die eigenen Hoffnungen. Bei Abstimmungen kann die SP immer wieder mit Verneinungen arbeiten, diese produzieren die Freudentränenbilder, bei Wahlen muss sie aber ein eigenes Bild der Schweiz entwerfen, es ist die Kunst des Bejahens, der kompliziertere Teil der Politik.» Die beiden grünen Parteien hingegen hätten eine Vorstellung einer Zukunft, eines Jas: «Die Grünen bieten eine konservative Quartierlädelischweiz an, ein Land, das sich vom ewigen Wachstum abwendet. Eine Utopie der Suffizienz. Und die Grünliberalen bieten die optimistischere, progressivere Alternative dazu: mit mehr technischem Fortschritt, ohne ein Wachstumsverbot.»
Zu diesen mehr oder minder wohlmeinenden Analysen muss man auch festhalten, dass spekulativ ist, wie sich die Lage in den nächsten Monaten und Jahren verändert. Unklar ist auch, ob der Krieg in der Ukraine eine parteipolitische Auswirkung hat. Die Analyse des SP-Copräsidiums, wonach die Talsohle durchschritten und die SP wieder auf dem aufsteigenden Ast ist, weil die Resultate der kantonalen und kommunalen Wahlen besser sind als bei den letzten Nationalratswahlen ist also ebenso plausibel.
Der Eindruck, die SP sei bloss am Verhindern und nicht am Gestalten, ist zudem falsch: Die SP hat nicht nur Referenden gewonnen, sie hat die Energiewende gestaltet und will zusammen mit den Grünen eine Klimafondsinitiative lancieren. Sie hat sich erfolgreich eingesetzt für mehr Transparenz in der Politikfinanzierung. In der Pandemiezeit war die SP führend im Einsatz für das Gewerbe. Mit Prämienverbilligungsinitiative und Kitainitiative hat die SP zwei Initiativen lanciert, die das Portemonnaie von Familien und Normalverdienenden im Zentrum haben.
Doch scheint mir die Frage der fehlenden Zukunftsvorstellung, der Vergangenheitsorientierung nicht ganz gelöst. Dabei geht es nicht darum, ein sozialistisches Utopia zu entwickeln. Das ist in der Vergangenheit nun tatsächlich schiefgelaufen. Aber eine sozialdemokratische Politik muss eine fortschrittliche und zukunftsgewandte Politik sein. Das muss mehr sein, als eine Rückkehr in die «Trente Glorieuse», in die wirtschaftlich florierende Nachkriegszeit, mit etwas weniger gesellschaftspolitischem Mief. Und diese Zukunft haben wir nur, wenn wir wieder Wahlen gewinnen. Als Linke insgesamt.
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