Kaffeesatzlesen

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Am 10. August wurde die erste Abstimmungsumfrage von Tamedia, durchgeführt von der Firma LeeWas, veröffentlicht. Sie zeigte ein Ja von 55 Prozent bei der Massentierhaltungsinitiative, eine Mehrheit von 58 Prozent bei der AHV-Zusatzfinanzierung und eine etwas geringere Zustimmung bei der AHV21-Reform (Rentenaltererhöhung) von 54 Prozent. Die Verrechnungssteuer würde gemäss Umfrage abgelehnt mit 51 Prozent Nein, aber mit einem hohen Anteil an Unentschlossenen. Bemerkenswert war der Unterschied zwischen Männern und Frauen: Nur 36 Prozent der Frauen wollen gemäss LeeWas der Rentenaltererhöhung zustimmen, 71 Prozent der Männer hingegen sind dafür. Rund eine Woche später erschien die erste SRG-Trendumfrage, durchgeführt von gfs.bern. Die Resultate der Umfragen unterscheiden sich teilweise klar. Bei der Massentierhaltungsinitiative gibt es keine grossen Unterschiede: Hier sagen 51 Prozent Ja. Bei der AHV sieht es anders aus. Gemäss gfs.bern sagen 65 Prozent Ja zur AHV-Zusatzfinanzierung und 64 Prozent Ja zur Rentenaltererhöhung. Auch die Verrechnungssteuer erhält eine Mehrheit, allerdings nur eine relative: So sagen 49 Prozent der Befragten hier Ja und 35 Prozent Nein. Aber auch hier gibt es relativ viele Unentschiedene. Bei der AHV-Abstimmung sieht auch gfs.bern einen deutlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern. So wollen gemäss SRG-Umfrage 74 Prozent der Männer und nur 52 Prozent der Frauen für die Rentenaltererhöhung stimmen. Ebenfalls unterschiedlich sind die Abstimmungsabsichten der WählerInnen von SP und Grünen. So sagen in der Tamedia-Umfrage eine Mehrheit von WählerInnen von SP und Grünen Nein zur AHV 21, bei der SRG-Umfrage ist eine Mehrheit der WählerInnen und Wähler der Grünen dafür. Die WählerInnen der SP sind zwar dagegen, aber auch nur mit 51 Prozent. Bei der Tamedia-Umfrage waren es klare 68 Prozent. 

 

Dass sich die beiden Umfragen in den Resultaten unterscheiden, ist nicht neu. Ebenso gibt es zuweilen deutliche Unterschiede zwischen Umfrage und Abstimmungsresultat. LeeWas veröffentlicht in ihren Berichten jeweils auch eine Aufstellung der jeweiligen Umfrageergebnisse mit den Abstimmungsresultaten. Das Bild ist ausgeglichen, was die beiden Umfragen anbelangt. So lag beispielsweise Tamedia bei der Konzernverantwortungsinitiative punktgenau bei 51 Prozent, die auch dem Abstimmungsresultat entsprachen. Die SRG-Umfrage lag bei 57 Prozent Ja. Dafür verschätzte sich LeeWas beispielsweise beim Vaterschaftsurlaub und lag bei 70 Prozent Ja, die SRG-Umfrage war bei 61 Prozent. Die Zustimmung bei der Abstimmung war bei 60 Prozent. Beide Umfragen lagen dafür klar daneben bei den Kampfjets: Hier war die Tamedia-Umfrage bei 65 Prozent Ja und die SRG-Umfrage bei 58 Prozent Ja. Am Schluss wurde es dann sehr knapp. Laut LeeWas ist deren durchschnittliche Abweichung mit 6,25 Punkten leicht schlechter als jene des GfS mit 6,19 Punkten. Das zeigt, es lässt sich nicht sagen, welche Umfragen eher richtig liegen. Zumal die Resultate im weiteren Verlauf des Abstimmungskampfs sich verändern werden.  Zwei im Frühling durchgeführte Umfragen zu den AHV-Abstimmungen lieferten ähnliche Unterschiede. So prognostizierte eine von BefürworterInnen beauftragte Demoscope-Umfrage ein Ja zur AHV-Reform, während eine vom Gewerkschaftsbund bei Sotomo in Auftrag gegebene Studie ein offenes Rennen voraussagte.   

 

Wie kommt es also zu diesen Differenzen? Ein Erklärungsansatz liefert der mittlerweile pensionierte gfs.bern-Gründer Claude Longchamp auf Facebook: «Das hat in erster Linie mit der Erhebungsmethode zu tun: Die Tamedia-Umfrage ist eine reine online-Erhebung, die von LeeWas noch modelliert wird. Sie neigt dazu, oppositionellere Einschätzungen zu liefern. Demgegenüber basiert die SRG-Umfrage auf einem Mix von drei verschiedenen Erhebungsverfahren bei gfs.bern (Telefon Fixnet, Handy und online).»  

 

Natürlich kann man auch sagen, dass Umfragen lediglich Momentaufnahmen und keine Prognosen sind. Und dass sich Meinungen auch im Verlauf von Kampagnen verändern.  Umfragen haben aber selbst einen Einfluss auf die Meinungsbildung. Die erwähnte Kampfjetabstimmung war weitaus knapper, als die Umfragen hätten vermuten lassen. Ein gegnerische Kampagne hätte vielleicht mehr investiert, wenn klar gewesen wäre, dass es so knapp wird. Auch politisch ist es ein entscheidender Unterschied, ob eine Mehrheit der SP-WählerInnen in einem Kernthema hinter der Position der Parteileitung steht oder nicht. 

 

Umfragen sind in den letzten Jahren auch etwas in Verruf geraten. Gerade weil sie zuweilen daneben liegen. Das berühmte internationale Beispiel dazu sind die Umfragen, die 2016 fast unisono einen Sieg von Hillary Clinton vorausgesagt hatten. Danach haben die Umfrageinstitute versucht, ihre Modelle zu justieren – haben aber 2020 ebenfalls daneben gelegen: So war das Resultat auch hier weitaus knapper als vorhergesehen. 

 

Warum diese Umfragen so daneben waren, ist unklar. Ein Grundproblem, das auch für die Schweiz gilt, ist, dass man Menschen per Telefon immer schlechter erreichen kann. Das ist auch der Grund, warum beispielsweise LeeWas nur noch auf Online-Umfragen setzen.  Viele Leute haben kein Festnetztelefon mehr oder nehmen keine Telefone ab, wenn sie die Rufnummer nicht kennen – dieses Problem kennen ja auch die TeilnehmerInnen von SP-Mobilisierungswahlkämpfen. Eine weitere Hypothese ist jene von Datenanalyst David Shor, der unter anderem für die Kampagne von Barack Obama tätig war, wonach sich Menschen, die an Umfragen teilnehmen, von den anderen immer mehr unterscheiden. Wer an Umfragen mitmacht, hat mehr Vertrauen. In andere Menschen, in Behörden und Institutionen. Gemäss seiner These sind diese TeilnehmerInnen auch im Schnitt politisch aktiver, häufiger auch WählerInnen der Demokraten. Die Pandemie habe diesen Effekt noch verstärkt. Das Problem sei also nicht, wie es oft geheissen habe, dass Menschen sich nicht trauten, zu sagen, dass sie Trump wählen wollen, sondern dass Trump-WählerInnen gar nicht erst an Umfragen mitmachten. Das heisst, dass die Stichproben nicht mehr repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind. 

 

Die These von Shor kann nicht eins zu eins in den Schweizer Kontext übernommen werden. Dennoch ist anzunehmen, dass beide Momente – fehlende Erreichbarkeit und unterschiedliches Behördenvertrauen – auch in der Schweiz eine Rolle spielen. Das heisst, die Voraussagekraft von Umfragen wird tendenziell schlechter. Auch wenn viel über Umfragen geschnödet wird: Das ist keine gute Entwicklung. Denn Kaffeesatzlesen und anekdotische Evidenz sind keine Alternativen. Und im Dunkeln tappen auch nicht – Strommangel hin oder her.    

 

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