Schlimmer geht’s immer

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Am Montag gaben die neue britische Premierministerin Liz Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng bekannt, dass sie auf eine kontroverse Massnahme in ihrem angekündigten «Mini-Budget» verzichten wollen: Nämlich auf die Steuersenkung für die obersten Einkommen beziehungsweise auf eine Streichung der obersten Progressionsstufe. Die Ankündigung des «Mini-Budgets» hat zu Verwerfungen geführt, die Märkte reagierten panisch, die politischen Verbündeten von Truss ebenso. Kein Wunder: Eine Politik, die zum einen die Steuern für Reiche und Grossunternehmen senken und zum anderen unlimitierte Boni für Banker zulassen will, bei gleichzeitiger Ankündigung, man wolle dann das «Fett» von den staatlichen Leistungen abschneiden, ist nicht populär. Ausser vielleicht bei liberalen Think Tanks. Oder bei jenen Top-Spendern der britischen Konservativen, die im Anschluss an die Bekanntgabe des «Mini-Budgets» an einem Champagner-Apéro mit Schatzkanzler Kwasi Kwarteng auf ihre Steuersenkungen angestossen haben. Selbst in einem anderen ökonomischen Umfeld wäre dies ziemlich toxisch. Nur kommt das im Falle Grossbritanniens noch dazu: Nach der Finanzkrise und Austeritätspolitik, den Nachwehen des Brexits und den aktuellen Folgen der Ukrainekrise, einer steigenden Inflation und steigenden Zinsen lässt diese Politik kaum bessere Zeiten erhoffen. Zumal die Konservativen dies nicht einmal versprechen: So lässt sich Minister Simon Clark, der ironischerweise dem Departement für «Leveling Up, Housing and Communities» (Aufstieg, Wohnen und Gemeinschaft) vorsteht, in der Presse zitieren, dass Grossbritannien bis jetzt im «Schlaraffenland» gelebt habe und sich jetzt auf eine Wirtschaft mit weniger Steuereinnahmen einstellen müsse. 

 

Die Reaktionen waren harsch: Zum einen zeigten Umfragen, dass Labour einen Vorsprung von 33 Prozent hätte, wenn Wahlen wären. Zum zweiten gab es einige Tory-Granden und ehemalige Minister, die sich öffentlich kritisch äusserten. Und es drohte eine Niederlage im Parlament, weil etliche Tories offen rebellierten. Schon seit Jahren verschlechtert sich die Lage der sozial Schwachen, der soziale Aufstieg ist in der traditionellen Klassengesellschaft immer unmöglicher geworden. Jetzt geht es auch der Mittelschicht an den Kragen. Eines der Kernelemente der Politik der konservativen Ikone Maggie Thatcher war die Förderung des Wohneigentums mit der Idee, dass Hauseigentümer politisch konservativer werden. 1980 wurde der «Housing Act» verabschiedet mit dem Ziel, dass soziale und kommunale Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. Hauseigentümerschaft wurde gefördert, und das Kalkül ging auf. Denn der Traum vom eigenen Haus ist nicht nur in England weit verbreitet. Jetzt sorgen allerdings steigende Zinsen für steigende Hypothekarkosten, sodass sich weite Teile Hauseigentum nicht oder nur noch knapp überhaupt leisten können. Die Tory-Abgeordneten wurden überschwemmt von Meldungen wütender WählerInnen, die sich die Hypotheken nicht mehr leisten können. Es kursieren bereits Analysen, wonach die Tories so ihre Stammlande für die nächste Zeit unwiderrufbar verlieren könnten. 

 

Nun könnte man meinen, dass man kein politisches Genie sein muss, um zu merken, dass eine Politik, von der nur fünf Prozent profitieren, kein elektoraler Burner sein kann. In der Zeitschrift ‹Economist› wird die These formuliert, die Tories seien von einer Art leninistischer Verelendungstheorie inspiriert: Es muss zuerst alles schlimmer werden, bevor es besser kommt. Beziehungsweise, nur wenn das Elend wirklich da ist, kommt auch die Revolution. Das Chaos, das jetzt ausbreche, so der Kolumnist Allister Heath in der konservativen Zeitung ‹Daily Telegraph› sei nötig, damit Veränderung möglich ist. Natürlich werde der Prozess traumatisch und könne eine globale Rezession, höhere Arbeitslosigkeit und mehr Konkurse auslösen, aber dennoch sei das Budget von Truss und Kwarteng das Beste seit Jahren. Nun kann man sich fragen, ob die Verelendungstheorie real funktioniert – tendenziell werden die Leute mit zunehmender Verzweiflung eher apathisch denn revolutionär, aber das kann ja auch ein Ziel sein –, aber vielleicht lässt sich Truss eher von falscher Geschichtslesung inspirieren. Denn auch ihr grosses Vorbild Maggie Thatcher startete mit einem sehr unbeliebten Budget und grossen Rückständen in den Meinungsumfragen, nur um in zwei Jahren die Wahlen zu verlieren. Was natürlich auch eintreffen könnte – die Frage ist allerdings, ob Liz Truss politisch so lange überlebt.

 

Das Interessante an dieser Situation ist, dass sowohl die Märkte wie auch die WählerInnen das Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz der Tories verloren haben. Das ist insofern bemerkenswert, als dass den Rechten eigentlich immer – bar jeglicher Evidenz – mehr Wirtschaftskompetenz zugeschrieben wird. Das ist nicht nur ein englisches Phänomen, sondern gilt auch für die Schweiz. Warum ist das so? Ich vermute, es hat mit der Überhöhung des Unternehmertums zu tun. Diese führt sogar so weit, dass sich selbst ein Manager wie Axpo-CEO Christoph Brand als «Unternehmer» bezeichnet. Und daraus folgend auch, dass man die Interessen von Unternehmen mit den Interessen der Gesamtwirtschaft verwechselt. So ist denn auch nicht weiter erstaunlich, wenn die grossen Reden von Marktwirtschaft und Kampf gegen die angeblich wuchernde Staatsquote schnell vergessen sind, wenn es darum geht, in einer Krise beim Staat Unterstützung anzufordern.

 

Wer hätte denken können, dass die Nachfolge von Boris Johnson noch schlimmer wird als Johnson selber, sinniert der Kolumnist Julian Baggini in der Zeitung ‹Guardian›. Johnson habe keinen moralischen Kompass gehabt, sei ein Opportunist gewesen, einer, der nur auf sein eigenes Fortkommen schaute. Das habe allerdings dazu geführt, dass seine Gefallsucht ihn teilweise davor bewahrte, ganz extreme Positionen einzunehmen. Lieber also ein Opportunist als eine gefährliche Ideologin? Baggini meint, es sei unter dem Strich dennoch richtig, dass Johnson gegangen wurde. Denn eine richtige Entscheidung bleibe auch richtig, wenn zum Schluss eine schlechtere Alternative folge. 

 

«Pest oder Cholera» ist ein altes Dilemma in der Politik. Nur ist es wohl oft so, dass es eben unter dem Strich nicht zwei gleichwertig schlechte Alternativen sind.

 

Während der historische Materialismus, auf den sich auch Lenin beruft, eigentlich von einem historischen Prozess in Richtung sozialer Fortschritt ausgeht, ist fraglich, wie linear und ob überhaupt dieser Fortschritt kommt. Denn ob es mal besser wird, ist noch unsicher. Gewiss hingegen: Schlimmer geht immer.

 

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