Im Juli 2022 verurteilte das Bezirksgericht Zürich einen Studenten zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren. Dieser hatte hinterrücks mit dem Messer auf einen FCZ-Fan eingestochen und diesen dabei schwer verletzt. Er hatte sich ein «White Lives Matter»-T-Shirt angezogen, in der Absicht zu provozieren und einen Streit anzufangen.
Die Parole «White Lives Matter» wird von amerikanischen Rassisten als Reaktion auf die Black-Live-Matters-Bewegung verwendet. Der Student wurde zudem verurteilt wegen Drogendelikten und öffentlichen Aufrufen zu Hass und Gewalt. Er hatte in den sozialen Medien wiederholt rassistische und sexistische Aussagen gemacht und die Manifeste von rechtsradikalen Amokläufern geteilt. Zusammen mit seinem Bruder hatte er zudem zwei alte Bäume mit einer Machete geschädigt. Der Fall wurde nun neu aufgerollt von den ‹Republik›-Journalisten Daniel Ryser und Basil Schöni. Der Artikel bringt zwei neue Aspekte ein. Zum einen wird kritisiert, dass die Identität des Täters nicht öffentlich gemacht wurde. Der Täter ist der Sohn eines bekannten Paares, laut Ryser und Schöni gehören sie «zum linksbürgerlichen Establishment der Stadt». Der Beschuldigte war beteiligt an einem kulturellen Projekt seiner Eltern und in diesem Zusammenhang auch in verschiedenen Medien aufgetreten. Dem Anwalt des Täters ist es gelungen, dass Gericht davon zu überzeugen, dass die Anonymität des Beschuldigten und seiner Familie gewahrt werden muss. Ryser und Schöni kritisieren die Anonymisierung als «Maulkorb für die Medien» und bezichtigten Anwalt Duri Bonin der Doppelmoral, weil dieser sich in einem Interview mit der ‹Republik› im Fall Pierre Vincenz für einen guten Zugang der Medien und Öffentlichkeit zum Prozess ausgesprochen habe. Der zweite Vorwurf von Ryser und Schöni ist, dass die Justiz Terrorismus mit unterschiedlichen Ellen behandelt und den rechtsextremen Terrorismus verharmlost.
Der erste Aspekt scheint mir nicht ganz eindeutig. Zum einen ist es ein Unterschied, wie sich ein Verteidiger in einem Prozess verhält und was seine persönliche und politische Meinung zu Strafprozessen ist. Zum zweiten ist der Fall nicht ganz derselbe. Der Normalfall ist, dass die Namen der Beschuldigten in der Prozessberichterstattung nicht genannt werden, es sei denn, es handle sich um öffentliche Personen. Hier ist nicht der Beschuldigte bekannt, sondern dessen Eltern. Nun kann man durchaus argumentieren, dass der Sohn selber im Rahmen des Kulturprojekts auch in der Öffentlichkeit stand, vergleichbar mit dem Fall Vincenz ist es auch so nicht.
Die zweite Frage, die Ryser und Schöni aufwerfen, ist wesentlich brisanter. Wird der Rechtsextremismus unterschätzt und glimpflicher behandelt als anderer Terrorismus und insbesondere der Jihadismus? Und wird einer, der aus gutem Hause kommt, besser behandelt und milder verurteilt als ein anderer? Beispielsweise jemand mit Migrationshintergrund? Letzteres ist ziemlich sicher und auch in Studien untersucht: Selbstverständlich sind RichterInnen nicht komplett objektiv und auch von den eigenen Vorurteilen geleitet. So irritiert natürlich der väterliche Rat des einen Richters an den Messerstecher, wonach dieser sich doch im Gefängnis um ein Fernstudium bemühen soll. Zumal der Täter keine Reue und Einsicht zeigt. Nun gibt dieser Richter vielleicht allen Beschuldigten väterliche Ratschläge. Aber es ist wohl wahrscheinlicher, dass die Milde etwas mit dem Milieu zu tun hat.
Ryser und Schöni vergleichen die Tat mit zwei Fällen, die Aufsehen erregt haben, den Attentaten in Morges und Lugano. Bei beiden handelt es sich um Messerattacken von jihadistisch motivierten EinzeltäterInnen. Bei beiden Fällen übernahm die Bundesanwaltschaft die Anklage. Im ‹Republik›-Artikel meint der Lausanner Kriminologe Ahmed Ajil, dass das Problem sei, dass im Schweizer Strafrecht mehr Instrumente für die Verfolgung von islamistischem Terrorismus als für andere terroristische Phänomene vorhanden seien. Das führe dazu, dass die Attacken von Morges und Lugano als Terrorismus gälten und die Messerattacke im ‹Sihlcity› nicht. Das wirke sich auf die Rechtssprechung, auf die Statistiken und schliesslich auf die Verteilung von Ressourcen aus.
Tatsächlich werden die Gefahren des Rechtsextremismus auch vom Nachrichtendienst des Bundes nicht als sonderlich gravierend eingeschätzt – im Gegensatz zu jenem des Linksextremismus: So schreibt er in einem Bericht zum gewalttätigen Extremismus im Januar 2021: «Der NDB (Nachrichtendienst des Bundes) kommt zur Beurteilung, dass das Gewaltpotenzial des gewalttätigen Linksextremismus in Zukunft noch weiter zunehmen könnte. Trotz ihres Gewaltpotenzials entwickeln sich in der organisierten rechtsextremen Szene der Schweiz derzeit keine Tendenzen hin zu vermehrter Gewaltausübung oder gar zu Terrorismus.» Immerhin verweisen sie auf Attentate in Norwegen, Neuseeland, den USA und Deutschland, in denen rechtsextreme Einzeltäter Anschläge gegen Minderheiten verübt haben: «Solche Anschläge sind auch in der Schweiz möglich. Bisher existieren nur schwache Hinweise auf eine solche Entwicklung in der Schweiz, aber mittelfristig besteht die Gefahr, dass auch die Schweiz mit demselben Phänomen konfrontiert werden wird.»
Keine Erwähnung im Bericht fand indes ein Fall, mit dem Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) im Abstimmungskampf zum PMT-Gesetz weibelte: Dabei handelt es sich um einen Ostschweizer, der als Jugendlicher bereits auf die schiefe Bahn geriet, mit Sprengstoffen experimentierte und online in rechtsextremen Gruppen gegen Muslime hetzte und mit Anschlägen drohte. Nach dem Attentat von Christchurch 2019, wo ein Rassist Dutzende Muslime ermordete, schrieb der Täter auf Instagram: «Irgendwann werde ich das Gleiche tun.» Der Beitrag gelangte offenbar zum FBI und von dort zu den Schweizer Behörden. Als Karin Keller-Sutter mit dem Fall Abstimmungskampf betrieb, war der Beschuldigte allerdings gerade aus dem Massnahmenzentrum in Uitikon geflohen, wie der ‹Tages-Anzeiger› berichtete. Er wurde schliesslich in Kroatien verhaftet.
Die Sache ist aber komplexer als eine zu eingeschränkte Betrachtung von Terrorismus in der Strafverfolgung. Wenn es sich um radikalisierte Einzeltäter handelt, ist es auch schwierig, zwischen vermeintlich privat motivierten Amokläufen und politisch inspirierten Terrorattacken zu unterscheiden. Was ist beispielsweise mit jenen Amokläufen, deren Motiv im Frauenhass zu suchen ist? Sind das Terrorattacken oder Amokläufe? Die Unterscheidung zwischen privat und politisch war noch niemals trivial. Es wäre falsch, zu meinen, das sei in der Gesetzgebung oder Strafverfolgung einfacher.
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