Nach zwei, drei Kommentaren, die nach der Bundesratswahl die Untervertretung der urbanen Schweiz bemängelten, kam ein Schwall von Artikeln, Kommentaren, Datenanalysen und «Faktenchecks», die sich aufmachten, diese These zu widerlegen. Selbstverständlich ist es nicht so, dass StadtbewohnerInnen automatisch progressiver sind als solche vom Land. Und natürlich ist es in einem kleinräumigen Land wie in der Schweiz so, dass jede Dorfbewohnerin nur wenige Kilometer von der nächsten Stadt entfernt lebt und jeder Städter noch ländliche Wurzeln aufweist. Aber so zu tun, als käme es aber irgendwie nicht wirklich darauf an, ob Stadt oder Land, ist – mit Verlaub – Quatsch. Selbstverständlich ist die Herkunft nur ein Faktor unter verschiedenen bei einer Bundesratswahl. Aber sie ist deswegen nicht irrelevant. Tatsächlich hat die jurassische Herkunft auch etwas mit dem Erfolg von Elisabeth Baume-Schneider zu tun, das nicht nur, weil der Jura als «Sehnsuchtsort» (NZZ) funktioniert. Die überschwängliche Freude, mit der die JurassierInnen Elisabeth Baume-Schneider in Empfang genommen haben, hat eben genau damit zu tun, dass sich hier ein Kanton über die Anerkennung freut, die ihm Baume-Schneider mit ihrer Wahl beschert hat.
Dennoch sollte man bei aller Freude nicht vergessen, dass es eine systematische strukturelle Untervertretung der Städte in der Schweizer Politik gibt. Und es gibt auch eine ziemlich tiefsitzende Abneigung gegen sie. Viel wurde bereits geschrieben über den offensichtlichen Sexismus in der Berichterstattung der Ausmarchung zwischen Elisabeth Baume-Schneider gegen Eva Herzog, wo die «gmögige Bauerntochter» gegen die «arrogante Städterin» ausgespielt wurde. Wo die eine als unterkühlt und die andere als ein bisschen naiv dargestellt wurde, was dem Leistungsausweis und der Persönlichkeit beider Frauen nicht gerecht wurde. Elia Blülle hat in der ‹Republik› hierzu noch eine kleine historische Recherche gemacht und zeigt auf, dass Bundesrätinnen offenbar immer in eine von zwei Kategorien fallen: Sie sind entweder «eiserne Ladies» oder «Landesmütter». Daneben kam aber noch ein anderes bekanntes Klischee zum Einsatz: Das reine Land gegen die böse Stadt. So muss das arme Heidi die schönen Berge verlassen und ins schreckliche Frankfurt, wo sie auf das böse Fräulein Rottenmeier trifft. Auch dies schwang bewusst oder unbewusst mit, wenn von «gmögige Bauerntochter» und «arrogante Städterin» die Rede war. In diese Klischeefalle traten alle Medien, auch jene, die diese jetzt vielleicht auch kritisieren. Und tatsächlich haben beide Frauen durchaus auch diese Klischees selber bedient.
Und nicht nur die beiden Frauen. Natürlich ist Belfaux ein Vorort von Fribourg und Collina D’Oro nahe bei Lugano. Natürlich sind Stadt und Land nicht weit auseinander. Nur wird ersteres gern verschwiegen und zweites zelebriert. Warum muss man als BundesratskandidatIn unbedingt die bäuerliche und ländliche Verbundenheit betonen? Wie Evi Allemann, die betonte, sie habe den Traktorführerschein, oder Hans-Ueli Vogt, der darauf hinweist, dass er das Landleben auch kennt, sein Vater habe auf einem Bauernhof gearbeitet. Und auch die Städterin Eva Herzog hat eine Bäuerinnenschule besucht. Das Schweizer Fernsehen zelebriert die Landfrauenküche, Hüttengeschichten und die Alp. Nur nützt das alles nichts. So wie die Liebe der SVP zum SRF nicht wächst, so wächst auch die Liebe der Bauern nicht zu den StädterInnen. Die Persönlichkeit ist hier weitaus unwesentlicher als die Bereitschaft, Geld für die Landwirtschaft zu sprechen.
Die moderne SVP verdankt ihren Aufstieg eigentlich den Städten. Dort setzte sie mit den «Buurezmorgen» genau darauf: Auf die urbane Sehnsucht nach dem Land und die Inszenierung der Ländlichkeit. Auch Heidi-Autorin Johanna Spyri lebte nicht auf der Alp, sondern in der Stadt Zürich. Die SVP hat die Stadt zu einem ihrer Feindbilder erkoren und eine Kampagne gegen die «Schmarotzer-Städte» gefahren. Die gleiche Stimmung wurde bei den Landwirtschaftsinitiativen zu Trinkwasser und Pestiziden bedient, wonach die arroganten StädterInnen der armen Landbevölkerung eine andere Lebensart aufzuzwingen wollen. Nun mag es durchaus so sein, dass StädterInnen nicht genügend Verständnis für das Leben auf dem Land aufbringen. Aber interessanterweise ist das Bild der StädterInnen vom Land weit positiver als umgekehrt. Wie eine Studie von Sotomo 2021 festgestellt hat, finden StädterInnen LandbewohnerInnen «sympathisch, hilfsbereit, traditionell und gesellig». LandbewohnerInnen hingegen StädterInnen «arrogant, konsumfreudig, oberflächlich und egoistisch». Dies kann auch mit einer wahrgenommenen Macht zutun haben, die den Städten zugeschrieben wird. Die grossen Städte haben tatsächlich einen grossen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss, politisch hält er sich aber in Grenzen, die Städte – insbesondere die Grossen – werden oft überstimmt.
Es ist auch ein fundamentales Missverständnis, das sich zeigt. Die teilzeitarbeitende Projektleiterin, die mit dem teilzeitarbeitenden Sozialarbeiter in einer Genossenschaftswohnung lebt, hat von sich selbst kaum das Gefühl, zur Elite zu gehören. Zum Feindbild wird aber sie stilisiert und nicht die Vertreter des städtischen Finanzplatzes oder der Grosskonzerne. Weil sie vielleicht Wert auf gendergerechte Sprache legt oder sich vegan ernährt. Die Stadt ist ein kulturelles, politisches und nicht ein ökonomisches Feindbild.
Was aber dahinter steht und vielfach vergessen wird: Die Städte sind der einzige Ort, in dem die Linke eine gewisse politische Macht und Gestaltung entfalten kann. Natürlich gibt es auch Dörfer mit starken Linken, aber das ist eher die Ausnahme als die Regel. Die Städte sind der Ort, an dem auch politische Innovationen entstehen, die später durchaus auch auf dem Land ankommen: Von der Kinderbetreuung bis zur Verkehrsberuhigung zum genossenschaftlichen Wohnungsbau. Sie sind die Fortschrittsmotoren der Schweiz. Dies zu negieren, heisst den realpolitischen Leistungsausweis von Rot-Grün zu negieren. Und genauso die Bedürfnisse und Lebenswelten eines nicht unbeachtlichen Teils der Bevölkerung. Wir sind nun mal nicht Heidi, sondern Frankfurt. Und Heidi hatte dort zwar Heimweh, aber immerhin das Lesen gelernt. Und das ist auch was wert.
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