Bullshitberichterstattung

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«Sie (die vierte Gewalt) kann ihre Wächterfunktion nicht wahrnehmen, wenn sie einen Bogen um jedes als geheim etikettierte Dokument macht oder sich an jedes noch so ungerechtfertigte Kommissionsgeheimnis hält. Umgekehrt nützen gute Kontakte auch den Kommunikationsspezialisten im Dienst von Regierung und Verwaltung. Wer ein freundschaftliches Verhältnis zu den Medien pflegt, kann Interesse für Themen wecken, Hintergründe erklären und dafür sorgen, dass der eigene Chef, die eigene Chefin in gutem Licht dasteht. So weit, so normal.» So beginnt Christina Neuhaus, Inlandchefin der NZZ, ihren Kommentar zu den am Samstag bekannt gewordenen Vorwürfen rund um Peter Lauener, den vormaligen Kommunikationschef von Bundesrat Alain Berset. Dieser soll gemäss einem Artikel der ‹Schweiz am Wochenende› Ringier-CEO Marc Walder regelmässig mit vertraulichen Unterlagen zur Corona-Politik des Bundesrats versorgt haben. Gemäss Christina Neuhaus eine eigentlich normale Praxis, aber in diesem Falle demokratiepolitisch ganz schlimm. Warum? Neuhaus begründet dies damit, dass während der Corona-Zeit die Macht der Exekutive gross war, Parlament und Bevölkerung nur wenig zu sagen hatten. Gleichzeitig wurden die Massnahmen grossmehrheitlich von den Menschen mitgetragen. Wenn jetzt der Verdacht aufkomme, dass dies wegen einer manipulierten Presse geschehen sei, so Neuhaus, dann «reicht dies, um dieses Verständnis und das Vertrauen in das System zu untergraben».

 

Die NZZ doppelt dann auch noch mit einer Datenanalyse nach, wonach Ringier und SRF am wenigsten kritisch über die Massnahmen und den Bundesrat berichteten. Ganz im Gegensatz zu NZZ, ‹Weltwoche›, ‹Nebelspalter›, aber auch ‹20 Minuten›. Das sei der Beweis, dass die «Standleitung» zu Marc Walder die Berichterstattung gefärbt habe. «Das», bilanziert Christina Neuhaus, «sollte für die Branche ein Weckruf sein. Denn mediale Verantwortung übernehmen bedeutet nie, der Regierung blind zu vertrauen. Es heisst vor allem, der eigenen, kritisch-journalistischen Rolle gerecht zu werden.» 

 

Indes wehrt sich ‹Blick›-Chefredaktor Christian Dorer. Die ‹Blick›-Redaktion habe keine Weisungen erhalten, recherchiere unabhängig und verwahre sich gegen den Vorwurf, das Innendepartement habe sie beeinflusst. Die Geschichten, die in der ‹Schweiz am Wochenende› aufgeführt waren, seien unabhängig entstanden und recherchiert worden. Auch der ‹Tages-Anzeiger›, der einige Male in der Pandemie mit Vorabinformationen auffiel, sah sich veranlasst, sich zu rechtfertigen. Bundeshausredaktor Fabian Renz schreibt, man sei nicht wie Ringier: «Fakt ist, und Laueners E-Mails bestätigen es: Über einen privilegierten Informationskanal zu Bersets Departement haben die Tamedia-Zeitungen nicht verfügt. Unsere Artikel basierten auf einer Vielzahl verschiedener Quellen. Das ist eben darum wichtig, weil wir uns auf diese Weise nicht in Abhängigkeiten begeben haben. Und unabhängige Medien sind für die Demokratie zentral – in einer Krise wie Corona erst recht.»

 

Was allerdings in Peter Laueners Mails stand und wem er Mails geschrieben hat, wissen wir alle nicht. Wir wissen nur, was die ‹Schweiz am Wochenende› geschrieben hat, wohl aufgrund von ihr zugespielten Akten aus einem laufenden Strafverfahren. Was – um der Logik von Christina Neuhaus zu folgen – auch dazu führen könnte, dass das Vertrauen ins System (hier der Justiz) untergraben wird. Man kommt nicht ganz darum herum, allen AkteurInnen ein gewisses Mass an Scheinheiligkeit zu attestieren. Der ‹Tagi› versucht sich mal präventiv vom Verdacht reinzuwaschen, er habe auch von Leaks profitiert. Was aber auch niemand so richtig glauben mag, denn von irgendwo sind die Informationen auch geflossen. Und bei NZZ und CH-Media könnte man auch vermuten, sie seien bloss pikiert, dass nicht sie die mit den «guten Kontakten» sind. Denn das Ganze ist ja normal. Nur hier eben nicht. Ich nicht, die anderen auch.

 

Der Watergate-Skandal 1972 machte aus den beiden Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein Stars und etablierte den investigativen Journalismus. Seither ist jede Journalistin und jeder Reporter auf der Suche nach einem «Gate» und einer guten Insider-Quelle wie «Deep Throat». Nur ist eben nicht alles ein «Gate» und nicht jede Recherche eine grosse Heldentat. Was in den Medien als Recherche verkauft wird, ist meist das Auswerten von zugespielten Informationen. Was selbstverständlich eine gute Geschichte sein kann.

 

Aber manchmal eben auch nicht. Die Jagd nach dem Primeur, die bei allen Medien ausgebrochen ist, erlegt eben nicht nur Grosswild, sondern auch viel Kleinvieh. Gerade die vorzeitige Vermeldung von Informationen, die kurz darauf sowieso öffentlich werden. Das seien «Pseudoscoops», die nichts mit investigativem Journalismus zu tun hätten, schreibt Michel Guillaume, Bundeshausredaktor von ‹Le temps›. Diese Art von Indiskretionen sind tatsächlich gang und gäbe, und es ist ein System, von dem beide Seiten profitieren: Informationen für die Medien, gute Publicity für die Politik.

 

Gleichzeitig richten sie auch Schaden an. Politik in Gremien, sei es in der Legislative oder in der Exekutive, funktioniert eben nicht, wenn Diskussionen nicht auch mal vertraulich geführt werden können. Wie frei kann sich jemand äussern, wenn er oder sie befürchten muss, dass es am nächsten Tag in den Medien zu lesen ist? Wie fest kann sich so jemand bewegen, Kompromisse eingehen? Systematische Indiskretionen können tatsächlich das Vertrauen von Institutionen beschädigen, ohne einen realen Newswert zu bringen. Denn was nützt es mir als Leserin, wenn ich etwas einen halben Tag früher lesen kann, als es nachher ohnehin kommuniziert wird?

 

Zum zweiten: Kritik ist nicht gleichzusetzen mit kritischem Journalismus. Eine Gleichsetzung von Artikeln, die die Corona-Massnahmen neutral oder wohlwollend begleitet haben, mit Manipulation, ist irreführend. Marc Walder hat die Haltung vertreten, das wurde auch schon früher bekannt, dass man in einer Krise die Regierung stützen sollte. Das ist eine legitime Haltung, genauso wie das Gegenteil. Einen Beweis, dass er dies nur tat, weil ihn Lauener beliefert hat, gibt es nicht. Genauso wenig wie einen Beweis, dass Walders Haltung die ‹Blick›-Redaktion dominiert hat. Das Aufblasen von Skandalen oder forciert kritischer Journalismus, nur um die eigene Unabhängigkeit zu beweisen, ist auch keine grosse Leistung. Etwas mehr Reflexion statt Pseudoscoops und etwas mehr Inhalt als PR täte allen gut. Auch in der Krise. Das dankt dann auch die Leserin.  

 

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