Empirie oder Ideologie?

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Auch die Stadt Zürich soll einen Mindestlohn erhalten. Das hat jedenfalls die Mehrheit des Gemeinderates vor (P.S. berichtete). Der Gegenvorschlag zur Initiative «Ein Lohn zum Leben» sieht wie die Initiative einen Mindestlohn von 23.90 Franken vor. Er schlägt aber eine Reihe von Ausnahmen vor: Der Mindestlohn soll nicht gelten für Lernende, PraktikantInnen, Familienangehörige im Familienbetrieb. Ebenfalls soll er nicht zur Anwendung kommen bei jungen Erwachsenen unter 25 Jahren, die keine Erstausbildung absolviert haben. Damit es keinen Anreiz dafür gibt, statt einer Lehre einen Aushilfsjob auszuüben. Dazu gibt es noch eine Erstreckung für Betriebe in finanzieller Not. Diese Ausnahme kam auf Wunsch der Mitte-Fraktion dazu. Der Gegenvorschlag wird von einem breiten Bündnis getragen. Aber: Die GLP ist nicht dabei. 

 

Die GLP wird im Moment gerne von allen politischen Seiten kritisiert. Was natürlich damit zu tun hat, dass sie politisch im Aufwind ist. Wenn sie nun von links als zu rechts und von rechts als zu links bezeichnet wird, dann sieht das die GLP als Auszeichnung. So twittert der Zürcher GLP-Co-Präsident Nicola Forster: «SP-Präsident: ‹GLP ist rechts!› FDP-Präsident: ‹Die GLP ist links!› Grünliberale: ‹Lieber vorwärts statt links/rechts. Aber danke für den Input.›» 

 

Die GLP will also weder links noch rechts sein, was ihr gutes Recht ist. Aber die GLP hat wohl wie kaum eine andere Partei den Anspruch, der Wissenschaft, der Empirie verpflichtet zu sein. Und so hat mir auch GLP-Gemeinderat Ronny Siev auf Twitter auf die Frage, warum die GLP den Mindestlohnkompromiss nicht unterstütze, geantwortet: «Weil ein riesiger Kontrollapparat aufgebaut wird und die Working Poor trotzdem nur sehr geringfügig entlastet werden. Ideologie vs Empirie.» Dabei verweist er auf einen Artikel in ‹Die Volkswirtschaft›. Dort führt der Autor Luc Zobrist, Leiter der Fachstelle Volkswirtschaft im Amt für Wirtschaft und Arbeit aus, dass die Mindestlohninitiative nicht geeignet für die Armutsbekämpfung ist und nur sehr wenige Leute im Kanton Zürich überhaupt betrifft. Denn der Stundenlohn sei weniger ausschlaggebend als beispielsweise das Arbeitspensum oder das Haushaltseinkommen. Zudem seien 18 Prozent der Working Poor Selbstständigerwerbende und damit vom Mindestlohn ausgeschlossen. «Alles in allem kann man deshalb – grob geschätzt – annehmen, dass rund 30 Prozent der Working Poor von einem Mindestlohn von 23.90 Franken betroffen wären. Das entspricht 6100 Personen. Wendet man dieselbe Rechnung auf die armutsgefährdeten Erwerbstätigen an, kommt man auf 11 300 Personen», so Zobrist. Caritas Zürich hingegen zählt allein für die Stadt Zürich 17 000 Personen, die trotz vollem Pensum auf weniger als 4000 Franken Monatslohn brutto kommen. Zwei Drittel davon sind Frauen. 

 

Wenn wir mal davon absehen, dass auch ÖkonomInnen nicht ganz frei von politischen Einstellungen sind, ist die Frage des empirischen Effekts von Mindestlöhnen eine interessante Frage. Nun ist logisch, dass die Chefökonomen von Economiesuisse und Gewerkschaftsbund nicht einer Meinung sind, aber es gibt oft auch eine Lehrmeinung – die ihrerseits nicht immer richtig sein muss. So herrschte lange die Meinung vor, dass Mindestlöhne zu negativen Beschäftigungseffekten führen: Wenn Löhne steigen, dann sinkt die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften und das führt dann zu höherer Arbeitslosigkeit. Das ist mittlerweile infrage gestellt. So hat der Nobelpreisträger David Card in einer Studie 1993 festgestellt, dass Mindestlöhne im Fastfood-Bereich nicht zu negativen Beschäftigungseffekten führen. 2010 wurde dieser Befund in einer grossen empirischen Studie über die Jahre 1990–2006 von Arindrajit Dube, T. William Lester und Michael Reich bestätigt. Weitere Studien zu lokalen Mindestlöhnen in den USA sind zum selben Schluss gekommen.

 

Das ist wohl auch der Grund, warum Zobrist in seiner Argumentation auf die Armutsbekämpfung fokussiert. Er führt zwar den Nobelpreisträger Card an, ohne aber auf seine Studie einzugehen. Immerhin kommt er zum Schluss, dass die Befunde nicht einheitlich sind. Dass Mindestlöhne nicht automatisch zu mehr Arbeitslosigkeit führen, ist mittlerweile mehrheitlich Konsens. 

 

Aber es gibt natürlich noch weitere Faktoren, die eine Rolle spielen könnten, wie beispielsweise die Konjunkturlage, die lokale Wirtschaftsstruktur oder die Höhe des Mindestlohns. In der Schweiz gibt es bis dato nur eine Studie, die den Effekt von lokalen Mindestlöhnen untersucht. Diese kam durch eine Untersuchung von Löhnen in der Gastronomie zum Schluss, dass die Einführung des kantonalen Mindestlohns nicht zu negativen Beschäftigungseffekten führte. Dafür aber generell für eine Lohnerhöhung sorgte. Auch bei jenen Beschäftigten, deren Einkommen vor der Einführung des Mindestlohns darüber lag. Der Studienautor Bruno Lanz meint allerdings gegenüber ‹Bajour›, dass man vorsichtig sein soll, die Ergebnisse auf andere Kantone zu übertragen. Der positive Effekt von Mindestlöhnen auf andere Löhne im Tieflohnbereich wurde allerdings auch schon in anderen Studien in anderen Ländern wie Ungarn, Deutschland und mehreren US-Bundesstaaten festgestellt. Die Kosten der Mindestlöhne wurden teilweise durch erhöhte Produktivität, aber auch tiefere Gewinne oder höhere Preise kompensiert.

 

Es ist wohl der Effekt auf die ganze Lohnstruktur im Tieflohnbereich, den die GegnerInnen des Mindestlohns befürchten. Natürlich ist ein Mindestlohn nicht die Lösung für alle Armutsprobleme, aber sie kann im Bereich der tieferen Einkommen einen Effekt erzielen. Und der ist nicht nur monetär, sondern auch ein Zeichen von Anerkennung und Respekt. Man muss auch festhalten, dass sich Zobrist bei der Armutsdefinition auf die SKOS-Richtlinien abstützt, die das Existenzminimum für die Sozialhilfe festlegt. Dieses ist bekanntlich sehr tief. Auch die Schwelle der «relativen Armutsgefährdung», die 60 Prozent des medianen verfügbaren Einkommens entspricht, ist mit derzeit rund 2500 Franken für eine Einzelperson kaum das, was man als würdige Existenz bezeichnen würde. Hinzu kommt, dass sich ja Arbeit eigentlich mehr lohnen sollte als Sozialhilfe. 

 

Die Empirie ist also nicht ganz eindeutig, aber spricht eigentlich eher für Mindestlöhne. Und mindestens dafür, dass sich die GLP einmal etwas unvoreingenommener damit auseinandersetzt. Denn – und das muss sie auch wissen – der Weg Richtung Rahmenabkommen und besserer Integration mit Europa wird wohl kaum an einer Einführung von Mindestlöhnen vorbeikommen.

 

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