Dilemma

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«Es gibt keine Lösung, bei der man nicht schuldig wird», das sagte Gerhard Feige, der katholische Bischof von Magdeburg zur Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine. Er bringt damit das ethische Dilemma auf den Punkt. Und dieses Dilemma gilt auch für die Schweiz. Auch wenn es bei uns nicht um die direkte, sondern lediglich um die indirekte Weitergabe von Waffen geht. Rechtlich und moralisch ist das Dilemma nicht einfach zu lösen. Konkret gab es Gesuche aus Deutschland, Dänemark und Spanien, die Munition, Truppentransporter oder Panzer an die Ukraine weiterreichen wollten. Der Bundesrat lehnte diese Gesuche mit Verweis auf das Kriegsmaterialgesetz und die Neutralität ab. Dies führte in diesen Ländern, namentlich in Deutschland, zu einiger Verstimmung. Das Kriegsmaterialgesetz wurde als Reaktion auf die Korrekturinitiative verschärft. Diese wollte verhindern, dass Schweizer Waffen in Bürgerkriegen eingesetzt werden, oder an Länder geliefert werden, die die Menschenrechte systematisch verletzen. Im Kriegsmaterialgesetz ist klar geregelt, dass Kriegsmaterial nicht weitergegeben werden kann an Länder, die in einen internen oder internationalen Konflikt verwickelt sind. Zum Zweiten verletzt eine Weitergabe laut Bundesrat das Neutralitätsrecht gemäss Haager Abkommen von 1907, das neutralen Staaten eine Gleichbehandlung aller Kriegsparteien vorschreibt. Das heisst, wenn man eine Wiederausfuhr an die Ukraine ermöglicht, müsste man dies auch für Russland tun. Diese Auffassung ist allerdings auch umstritten.

 

Der schreckliche Krieg in der Ukraine tobt nun seit einem Jahr. Eine schnelle Lösung scheint nicht in Sicht. Um der russischen Übermacht etwas entgegensetzen zu können, ist die Ukraine auf Waffenlieferung aus dem Westen angewiesen. Der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine ist auch eine Bedrohung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Wenn Russland den Krieg gewinnen sollte, so sind weitere Länder – mindestens im engeren Umfeld – in Gefahr. Die Schweiz hat sich nach anfänglichem Zögern entschlossen, sich den internationalen Sanktionen anzuschliessen. Für die SVP war dies schon ein Verrat an der Neutralität.

 

Nun wollen verschiedene Kräfte eine Wiedergabe von Kriegsmaterial durch die Schweiz ermöglichen. Gerhard Pfister von der Mitte vertrat immer die Ansicht, dass die Weitergabe durch den Bundesrat auch ohne Gesetzesänderung möglich sei. Bekanntlich sieht dies der Bundesrat anders. Dann gibt es noch jene, die gegen die Verschärfung des Kriegsmaterialgesetzes waren und jetzt die Gelegenheit wittern, dieses generell wieder zu lockern. 

 

In diesem Spannungsfeld versuchten die beiden Sicherheitspolitischen Kommissionen (SIK) von National- und Ständerat eine Lösung zu suchen. Nach der Sitzung von dieser Woche sind noch drei Optionen auf dem Tisch, die alle ehrlicherweise ein paar Pferdefüsse aufweisen. Zum einen eine parlamentarische Initiative der SIK des Nationalrats, die von der Mitte eingebracht wurde, die eine eng begrenzte Ausnahmebewilligung für die Ukraine will. Zum anderen eine von der SP eingebrachte Motion, die eine Ausnahmebewilligung ermöglichen will, wenn der UNO-Sicherheitsrat eine Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots feststellt oder, wenn der UNO-Sicherheitsrat aufgrund eines Vetos nicht entscheidungsfähig ist, es aber von einer Zweidrittels-Mehrheit der UNO-Generalversammlung festgestellt wurde. Als Drittes wurde eine parlamentarische Initiative der SIK des Ständerats, die von der FDP eingebracht wurde, modifiziert. Die Nichtwiederausfuhr-Erklärung für Schweizer Waffen soll ausnahmsweise auf fünf Jahre befristet werden können, wenn ein Land dieselben Werte wie die Schweiz vertritt und über ein ähnliches Exportkontrollregime verfügt. Befindet sich das Bestimmungsland im Krieg, ist die Weitergabe nur dann erlaubt, wenn das Land von seinem Recht auf Selbstverteidigung bei völkerrechtswidrigem Angriff Gebrauch macht. Dies wird analog des SP-Vorschlags definiert. Ausserdem wurde aus dem in der Ständeratskommission vorgeschlagenen Automatisismus eine «Kann-Bestimmung» – der Bundesrat muss eine Wiederausfuhrbewilligung also nicht automatisch erteilen . Bei all diesen Vorschlägen gibt es Zweifel, ob diese neutralitätsrechtlich bestehen.

 

Die SP hat über die Grundsatzfrage der Weitergabe an der letzten Fraktionssitzung ausführlich diskutiert. Zwar hat sich eine Mehrheit dafür ausgesprochen, der Entscheid war allerdings knapp. Die Argumente dagegen entsprechen denjenigen der Grünen: Eine Wiederausfuhr sei neutralitätsrechtlich schwierig und sie sei auch nicht nötig, weil sie nicht kriegsentscheidend ist. Die Schweiz hat andere Möglichkeiten, die sie zu wenig nutzt, so bei der Kriegsfinanzierung, dem Rohstoffhandel und bei der humanitären Hilfe. Diese Argumente sind alle richtig. Und ich halte es auch für eine Stärke, wenn man sich bei dieser Entscheidung schwertut. Mir sind jene suspekt, die hier ganz klar wissen, was richtig und falsch ist. Seien es jene Westentaschenmöchtegerngeneräle (gibt es auch in weiblich), die vom bequemen Schreibtisch aus pathetische Voten halten. Wie auch jene kicherenden ‹Friedens›-aktivistinnen der Querfront, die suggerieren, ein Frieden sei ganz easy zu haben, wenn man Putin nur nett darum bitten würde.

 

Ich habe mit der Mehrheit gestimmt, um die Suche nach einer Lösung zu ermöglichen, die das Kriegsmaterialgesetz nicht verwässert und sich am Völkerrecht orientiert. Ob sie wirklich gefunden wird, ist offen. Aber wenn wir der Meinung sind, dass es richtig ist, dass andere Länder Waffen an die Ukraine liefern, dann scheint es mir irgendwie auch nicht ganz solidarisch, wenn wir uns einfach die Hände selber nicht schmutzig machen wollen. Das kann man nur dann begründen, wenn man es richtig findet, eine enge Auffassung von Neutralität zu vertreten.  

 

Aber ist die auch richtig? Historisch gesehen wurde das Haager Abkommen in einer Zeit verfasst, in denen Krieg nicht nur legal, sondern auch legitim war. Dies änderte sich nach der Erfahrung der schrecklichen Weltkriege. Der Angriffskrieg ist seither klar geächtet und illegal. Demgegenüber kann sich ein Land, das dem Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft gegenüber verpflichtet ist, nicht im engen Sinne neutral verhalten. Eine solidarische Aussen- und Sicherheitspolitik muss auf der Seite des Opfers stehen, eine enge Auffassung der Neutralität ist in dieser Situation eben auch ein Positionsbezug, nämlich für den Aggressor. 

 

Geopolitik ist nicht ohne Ambivalenzen zu haben. Man muss diese Ambivalenzen aushalten, wenn man die differenzierte Debatte sucht. Das Dilemma wird bleiben.

 

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