Überzogene Erwartungen

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Vor Kurzem wurde die erste Velovorzugsroute an der Baslerstrasse eröffnet. Auch wenn die Route einige Verbesserungen mit sich bringt, wurde sie gleich zu Beginn kritisiert. Die grünen Streifen seien verwirrend und die Strasse noch nicht vollständig vom Durchgangsverkehr befreit. Nun bin ich noch nie auf der neuen Velovorzugsroute gefahren, kenne aber die Strecke durchaus und habe sie nie als schlimme Velostrecke empfunden, da gibt es weitaus üblere Flecken. Nun ist es natürlich legitim, dass Aktivist:innen statt kleinen Verbesserungen grosse Veränderungen wollen. Und es ist auch nicht ihre Aufgabe, Sachzwänge zu erkennen oder Realpolitik zu betreiben.

Tatsächlich ist die Frage legitim, warum nach 25 Jahren rotgrünem Stadtrat die Veloinfrastruktur immer noch zu wünschen übrig lässt oder es immer noch einen akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum gibt. Man kann das natürlich auf fehlenden Mut oder Mangel an Konsequenz zurückführen. Vielleicht liegt es ja auch am Personal? Da sieht beispielsweise Silas Hobi, Geschäftsführer von umverkehR den Hund begraben. In einem Interview mit Tsüri.ch ärgert er sich über die Gegenvorschläge des Stadtrats zu den Stadtklima-Initiativen: «Offensichtlich fehlt es an Visionen und überzeugenden Führungspersonen. Überall, wo verkehrspolitische Errungenschaften erzielt wurden, war es Chefsache. Ob Anne Hidalgo in Paris, Klaus Bondam in Kopenhagen, Miguel Lores in Pontevedra, Ada Colau in Barcelona, Ursula Wyss in Bern und so weiter – da haben charismatische Führungspersonen die Verantwortung auf sich genommen, den Konflikt mit der Autolobby und dem Gewerbe ausgetragen und die Verwaltung auf Kurs gebracht. Mit Erfolg. Das fehlt in Zürich.» 

Man kann sich fragen, ob die Wähler:innen halt in den letzten Jahren einfach nicht so die überzeugenden und charismatischen Führungspersonen gewählt haben. Aber vielleicht ist es auch schlicht nicht so einfach. So war Daniel Leupi (Grüne) beispielsweise als Gemeinderat an vorderster Front der Veloförderung. Auch andere Stadträt:innen wie beispielsweise André Odermatt (SP) sind aktive Velofahrer. Trotzdem ist Zürich noch nicht zur Velostadt geworden. Und auch Richard Wolff (AL) wurde vorgeworfen, er habe im Tiefbauamt den Biss verloren. Solche Gremien haben die Tendenz, Ecken und Kanten abzuschleifen, das liegt ein wenig in der Natur einer Kollegialbehörde. Verwaltungen sind träge Dampfer, Projekte haben eine lange Planungszeit. Das führt dazu, dass auch jene, die im Wahlkampf ankünden, alles anders zu machen, am Schluss dann doch nicht so anders sind. Ganz wie Nationalrat Hugo Sanders in der berühmten Ballade von Mani Matter.  

Häufig ist es aber vor allem so, dass eine Politik geprägt ist von Umständen und Überlegungen der damaligen Zeit. Im Nachhinein stellen sich diese vielleicht als falsch oder zu kurzsichtig he­raus. Aber eben, im Nachhinein ist man schliesslich immer klüger. In den 1990er-Jahren zu Beginn der rotgrünen Mehrheit waren die Stadtfinanzen knapp, die Stadt galt als unattraktiv, als AAA-Stadt, in der nur noch Arme, Alte und Ausländer wohnten. Die Stadt reagierte darauf, in dem sie versuchte, attraktiveren Wohnraum für Familien zu schaffen. Auch bessere Steuerzahler:innen waren gesucht. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum ein Gestaltungsplan wie jener zur Europa-Allee 2006 einstimmig durch den Gemeinderat kam (die AL hat sich enthalten).  Schon vor der Finanzkrise war die Abhängigkeit der Stadt Zürich vom Finanzplatz ein grosses Thema. Nur der ehemalige Finanzvorstand Martin Vollenwyder sprach von einer «Klumpenchance» statt einem Risiko. Hinter diesem Hintergrund sind die Bemühungen zu sehen, andere Firmen und Industrien, insbesondere aus dem digitalen Bereich anzusiedeln. Google und Co hatten auch vor zehn, fünfzehn Jahren bei Weitem nicht das schlechte Image, das sie heute zum Teil zu Recht haben.

Zudem gibt es immer wieder Zielkonflikte. Sanierungen von Siedlungen, gerade auch von Genossenschaften, wurden durchaus auch breit von Rotgrün unterstützt. Nicht nur, weil man den zahlbaren Wohnraum für Familien schaffen wollte, sondern auch weil eine Sanierung aus energetischen und ökologischen Gründen sinnvoll schien. Dabei sind aber auch Altbauwohnungen mit bescheidenem Standard und kleinen Grundrissen verloren gegangen, die dank sehr günstiger Mieten für Mieter:innen mit kleinem Einkommen eine der wenigen Möglichkeiten waren, in Zürich wohnhaft zu bleiben. Auch aus ökologischer Sicht sind diese Ersatzneubauten nicht immer sinnvoll, weil in den Altbauten gespeicherte graue Energie verloren geht und beim Neubau graue CO2-Emmissionen ausgestossen werden. Man muss hier der AL durchaus ein Kränzchen winden, die dies schon früh kritisiert hat.

Diese Zielkonflikte gibt es auch im Verkehr. Der Platz in der Stadt ist und bleibt beschränkt. Zürich ist auch deswegen nicht zur Velostadt geworden, weil Zürich eine ausgesprochene ÖV-Stadt ist. Der ÖV geht im Zweifelsfall vor: Man sieht dies auch exemplarisch am Limmatquai, das zwar autofrei geworden ist, aber eine ÖV-Strecke bleibt. Dies auch zu Lasten des Velos, für die das Limmatquai nur mässig attraktiv ist. Man kann diese Priorisierung kritisieren, aber unter dem Strich ist der ÖV jenes Verkehrsmittel, das gegenüber den MIV trotz allem am konkurrenzfähigsten ist. Dann war die Verkehrspolitik jahrelang geprägt vom Damoklesschwert der kantonalen Entmachtung. Bürgerliche Verkehrspolitiker:innen wollten den Städten die Hoheit über die kommunalen Strassen und die eigene Verkehrsgestaltung wegnehmen. Die Absicht: Eine Disziplinierungsmassnahme der rotgrünen Städte. Aus diesem Grund war die Stadt jahrelang übervorsichtig und versuchte, den Kanton möglichst nicht zu verärgern. Und zusätzlich gibt es Vorgaben des Kantons, die eine sinnvolle städtische Verkehrspolitik erschweren. Zum Beispiel der Gegenvorschlag zur Anti-Stau-Initiative, der festhält, dass jeder Spurabbau kompensiert werden muss, also dass so ein Kapazitätsabbau – beispielsweise eben für den Veloverkehr – nicht möglich ist. Erschwerend dazu kommt, dass die Politik – nicht nur in der Stadt – immer Probleme hat, Entwicklungen zu antizipieren. Hitzeminderung ist zwar seit Jahren ein Thema, wurde aber dennoch stiefmütterlich behandelt. Erst jetzt wo die Folgen spürbar sind, wird es zaghaft angegangen. 

Man kann das alles als Ausreden abtun. Aber eine ehrliche Analyse und Einordnung kann auch helfen, Probleme besser zu antizipieren. Es ist die Aufgabe von Aktivist:innen, die Politik anzutreiben. Aber überzogene Erwartungen führen letztlich stets in die Enttäuschung. Und hindern vielleicht daran, auch mal anzuerkennen, was sich real verbessert hat.