Am 12. September 1848 entschied die Tagsatzung der Eidgenossenschaft das Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung. Dieser Tag jährt sich nächste Woche zum 175. Mal. Vor einiger Zeit gab es eine Gruppe von Sozialdemokrat:innen und Zugewandten, die den 12. September als neuen Feiertag etablieren wollten. Vor rund zehn Jahren habe ich vor dieser Gruppe eine Rede gehalten. Aus Anlass des Jubiläums habe ich mir sie nochmals angesehen. Nun ist das immer ein wenig eine Sache, wenn man beginnt, sich selber zu zitieren. Aber zuweilen ist es ja auch interessant zu sehen, wie die eigenen Gedanken gealtert haben. Und es ist wie auch sonst im Leben: Teils ganz gut, teils leider nicht.
Am Ursprung meiner Rede war eine Debatte, die in einer gewissen Regelmässigkeit wieder aufflammt, im Moment aber kaum köchelt. Nämlich die, ob wir Linken zu Unrecht den Patriotismus der Rechten überlassen. Das Problem an der Geschichte sei, schrieb ich, dass wir Linken – und auch die Liberalen – im Kern für eine Meritokratie einstehen. «Wie soll man darauf stolz sein, dass man zufällig in einem Land geboren wurde? Ich bin Schweizerin, aber ich habe nichts dafür getan. Stolz sein auf ihre Staatszugehörigkeit könnten daher höchstens die Eingebürgerten. Sie haben wenigstens etwas dafür gemacht. Aber viele der hier geborenen und damit unverdienten Schweizer lassen das nicht gelten.»
Und das zweite Problem ist, dass der Schweizer Patriotismus und dessen Mythen so recht wenig mit der Lebensrealität einer urbaneren Schweiz zu tun hat. Einen Verfassungspatriotismus kennen wir nicht: «Das hat auch historische Gründe. Die Bundesverfassung von 1848 ist das Kind einer Revolution und sie ist die Verfassung der liberalen Sieger. Die konservativen Verlierer lehnten sie ab. Damit die Konservativen trotzdem zur neuen Schweiz finden konnten, brauchte man also etwas anderes. Also konstruierte man den Rütli-Mythos und machte damit die Kriegsverlierer zu Gründungsvätern. Damit gaben die Liberalen den Konservativen ihre Würde zurück und sorgten für ein friedliches Zusammenleben. Auf der Strecke blieb aber der eigene Verfassungspatriotismus. Das Selbstbild der Schweiz ist noch heute von Bauern und Bergen geprägt. Auch wenn die meisten von uns heute in der Stadt oder in der Agglomeration leben und höchstens Urban Gardening machen.»
Im Rest der Rede plädiere ich für eine Art vorsichtigen Verfassungspatriotismus, den man aber irgendwie auch noch mit Inhalt füllen müsste. Das klingt ein bisschen nach Wischi-Waschi, aber vielleicht ist das ja auch der Charme der Sache. Beziehungsweise Teil eines Aspekts, an den ich damals nicht gedacht habe. Nämlich, dass eine Demokratie vielleicht auch nie fertig sein sollte, nie zu Ende gedacht.
Der ‹Tages-Anzeiger› hat zur Entstehung der Verfassung einen hörenswerten Podcast produziert, in dem Markus Häfliger und Philip Loser die Entstehungsgeschichte nacherzählen, aber auch mit Gästen diskutieren, wo die heutige Verfassung noch Defizite hätte. Der ehemalige Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle Michel Huissod und der Campaigner Daniel Graf wollen eine Volksinitiative lancieren, die eine Totalrevision der Verfassung anstrebt. Die letzte Totalrevision datiert von 1999.
Auf die Frage, ob eine Totalrevision inhaltlich nötig und/oder politisch sinnvoll ist, habe ich eigentlich keine Antwort. Die Politologin Rahel Freiburghaus, die ebenfalls im Podcast interviewt wurde, meinte, dass die Verfassung auch letztlich ein Ideal verkörpern solle. Also das Idealbild der Nation, die man sein will, die man aber vielleicht noch nicht ist. Und eine Totalrevision dränge sich dann auf, wenn die Gesellschaft diese Vorstellung bereits überwunden hat. Nun hatte unsere Verfassung immer Elemente, die später überholt wurden. So hatten zu Beginn die Frauen gar keine Bürgerrechte und die Juden nur eingeschränkte. Und auch heute gibt es Diskutables. Vielleicht funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen nicht überall, wie sie soll, vielleicht ist die Anzahl Bundesräte für die gewachsenen Aufgaben nicht mehr zeitgemäss, um nur zwei Beispiele zu nennen. Doch ob eine Totalrevision jetzt wirklich einen grossen Mehrwert bringt, sehe ich durchaus mit Fragezeichen. Und ob es dann wirklich besser kommt, fortschrittlicher, inklusiver, zukunftsorientierter wird, sowieso.
Auf eine interessante historische Episode weist Markus Häfliger im Podcast hin. So sei umstritten gewesen, wie das Parlament künftig organisiert werden soll. Der Schwyzer Melchior Diethelm bringt den Antrag auf ein Zweikammersystem nach amerikanischem Vorbild ein. Die eher liberalen Kantone fanden eigentlich, eine Kammer sei genug, die Konservativen hingegen wollten sowieso lieber an der alten Tagsatzung festhalten, in der alle Kantone das gleiche Stimmrecht hatten. Das Scheitern drohte. Doch dann sei der Antrag auf den nächsten Tag vertagt worden und es habe dann sozusagen die erste lange Nacht der Messer gegeben, bei der insbesondere die katholischen Vertreter von Diethelm und anderen überzeugt wurden. Später habe dieser offenbar aber nichts mehr davon wissen wollen und bestritten, dass der Antrag von ihm gekommen sei. Wenn man die damalige Kommission in die heutige Zeit versetzen würde, dann gäbe es sicher den einen oder anderen Kompromiss, der spätabends beim Bier geschlossen wird. Es wäre aber auch gut möglich, dass die Differenzen via Twitter ausgetragen oder via Indiskretion in die Medien gelangen und damit jegliche Entscheidfindung verunmöglicht wird.
Nun zeigt diese Episode und einige weitere Geschichten aus der Entstehung der Verfassung, dass vieles auch hätte anders werden können, dass auch das Scheitern der ganzen Übung eine ganz reale Option war. Und die Verfassung und die Gründung des Bundesstaats letztlich nur dank glücklichen Umständen und Zufall tatsächlich gelungen ist. Die Erfahrungen mit Verfassungsrevisionen und mit den dafür zuständigen Verfassungsräten zeigt aber, dass diese oft eine sehr konstruktive Zusammenarbeit pflegten und dabei zu guten Lösungen fanden. Ich kenne beispielsweise keinen ehemaligen Verfassungsrat oder Verfassungsrätin, der/die nicht ein wenig ins Schwärmen gerät, wenn es um die Erarbeitung der kantonalen Verfassung ging. Und ja, vielleicht ist einiges möglich, was im Tagesgeschäft schwierig ist.
Und vor allem ist tatsächlich Demokratie nur dann lebendig, wenn sie auch weiterentwicklungsfähig ist. Wenn sie sich die Frage stellt, wie sie noch besser werden soll. Vielleicht reicht dazu auch, wenn wir mehr Menschen daran beteiligen, zum Beispiel, in dem wir das Ausländer:innenstimmrecht einführen. Aber da ist wohl eine Totalrevision der Verfassung noch realistischer.