Die Giesskanne ist – wie Paul Rechsteiner einmal in einem Beitrag geschrieben hat – nicht nur «ein bewährtes und äusserst praktisches Gartengerät», sondern auch ein gutes Prinzip bei der AHV oder bei anderen staatlichen Leistungen. Während der Nutzen der Giesskanne den meisten beim Gärtnern einleuchtet, kommt die Giesskanne im sozialen Bereich immer wieder in Verruf. Die Giesskanne wird gerade jetzt wieder verunglimpft, wenn wir über die 13. AHV-Rente sprechen. Es sei unsozial, wenn man denen eine 13. AHV-Rente ausbezahle, die sie nicht brauchen. Und man sei gegen das Giesskannenprinzip. Man solle gescheiter bedarfsgerecht etwas machen, bei denen, die es wirklich nötig haben, die von Armut betroffen sind, und nicht bei allen. Abgesehen davon, dass jene, die das Giesskannenprinzip bekämpfen, in der realen Politik auch nie etwas davon halten, bedarfsgerecht etwas zu tun, ist es zwar als Bild verführerisch, aber inhaltlich problematisch.
Die AHV, so Paul Rechsteiner, ist «deshalb so effizient und leistungsfähig, weil sie als Volksversicherung die gesamte Bevölkerung umfasst und alle – ob reich oder arm – Beiträge bezahlen müssen. (…) Das Argument, dass Reiche die AHV-Rente nicht bräuchten, ist deshalb scheinheilig. Ja: Der Reiche braucht die AHV nicht – aber die AHV braucht den Reichen. Auf diesen einfachen Nenner brachte es schon Bundesrat Hans-Peter Tschudi, der Vater der AHV. Das Prinzip der Volksversicherung funktioniert darum so gut, weil auch auf hohen Einkommen Beiträge bezahlt werden müssen.» Diese Renten sind allerdings gedeckelt, sodass die Millionär:innen zwar volle Beiträge, aber nicht eine höhere Rente erhalten als die mittleren Einkommen. Sein Fazit: «Die Giesskanne ist eine gute Sache. Effizient und demokratisch. Im Garten wie bei der AHV.»
In der AHV profitieren laut einem Bericht des Bundesamts für Sozialversicherungen über 90 Prozent der Bevölkerung. Sie zahlen weniger ein, als sie am Schluss erhalten. Möglich machen es die anderen, die mehr zahlen, aber nur eine gedeckelte Rente erhalten. Es ist aber genau jene Umverteilung, die den Rechten ein Dorn im Auge ist. Eine Pensionskassenexpertin der UBS ging an einem Podium sogar so weit, dass sie von einem «Ponzi-Scheme», einem Schneeballsystem sprach. Das gilt aber eben nur, wenn man von der Logik ausgeht, dass es nicht gehe, dass man mehr erhält, als man einzahlt. Wenn man also die Umverteilung aussen vorlässt.
Rechte fänden es grundsätzlich besser, man spart selber, am besten gleich in der dritten Säule, und wenn schon, dann in der beruflichen Vorsorge, wo dann das Problem mit den Lohnprozenten, die bei der AHV viel zu viel kosten, keine Rolle mehr spielt. Hauptsache, man spart nur für sich selber und nicht für andere.
Das Argument, dass man besser bedarfsgerecht helfen soll und nicht jenen, die es nicht nötig haben, erscheint dennoch auf den ersten Blick einsichtig, ja gar sozial. Aber es gibt nun einmal nicht nur Arme und Millionär:innen. Sondern vor allem viele dazwischen. Sie sind es, die vor allem von der Giesskanne profitieren. Und: Das Giesskannenprinzip ist es, was einen modernen Sozialstaat vom Suppenküchenprinzip des Manchesterkapitalismus unterscheidet. Es geht eben davon aus, dass Sozialversicherungen und öffentliche Dienstleistungen für alle gedacht sind, weil alle sie (mindestens potenziell) auch brauchen. Ohne Giesskannenprinzip hätten wir heute keine Volksschule, keinen öffentlichen Verkehr, keine Sozialversicherungen. Und all diese Institutionen funktionieren, gerade, weil auch Reiche sie nutzen.
Es ist die soziale Sicherheit des Giesskannenprinzips, das uns die scheinbar selbstverständlichen Freiheiten der Moderne erlauben. Sie ermöglichen es uns, nicht in einer unglücklichen Ehe auszuharren, sie ermöglichen uns, dass wir nicht gleich in Existenznot geraten, wenn wir einen Unfall hatten. Dass wir auch einen Beruf ausüben können, mit dem die Eltern nicht einverstanden sind. Selbstverständlich gilt das auch weiterhin nicht für alle. Aber für viele mehr, als das der Fall war, als man eben nur gezielt die Armen unterstützte. Und das Giesskannenprinzip hat auch das Stigma etwas gelindert, das mit Armut verbunden ist.
Denn das Versicherungsprinzip – halt eben die Giesskanne – sagt: Es könnte jedem passieren. Jeder kann Pech haben im Leben. Den Job verlieren, krank werden. Aus der Bahn geraten. Und es ist o.k., wenn ich dann die Leistungen beziehe. Ich habe Beiträge bezahlt für die Arbeitslosenversicherung, also darf ich sie auch beziehen, wenn ich arbeitslos bin. Genauso wie die Rente, wenn ich alt bin. Es ist der Grund, warum einige (auch wenn das falsch ist) sich scheuen, Ergänzungsleistungen zu beziehen, auch wenn sie nur eine kleine Rente haben. Aber bei der Rente haben sie kein Problem, auch wenn sie mehr erhalten, als sie einbezahlt haben. Weil die AHV eine Versicherung von allen für alle ist.
Und es haben auch jene etwas von der Giesskanne, die sie vielleicht gar nicht brauchen. So kann eine Millionärin genauso wie ein armer Schlucker der Meinung sein, dass gut ist, wenn ihre Kinder zusammen in die Schule gehen. Weil für den armen Schlucker das eine Garantie gibt, dass in die Schule auch investiert wird (weil die Millionärin sich schon zu wehren weiss). Und die Millionärin, weil sie möchte, dass ihre Kinder auch mitkriegen, dass es Menschen gibt, die etwas weniger privilegiert sind. Sowohl Volksschule wie auch AHV sind fest verankert in unserer Gesellschaft und kaum einer würde sie abschaffen wollen. In dem Moment aber, wo die Giesskanne nicht mehr für alle da ist, wo die einen nur noch zahlen müssen, aber nichts mehr davon haben, wird die Institution an und für sich infrage gestellt.
Das Argument aber, eine 13. AHV-Rente sei sozialpolitisch nicht sonderlich wirksam, weil andere Gruppen mehr von Armut betroffen sind – insbesondere Kinder – ist faktisch zwar richtig, aber ein wenig unredlich. Denn es ist nicht so, dass die Initiant:innen etwas dagegen hätten, gegen Familienarmut vorzugehen (bei den Gegner:innen sieht es anders aus). Zum zweiten ist dies auch nicht das Hauptargument. Die Bekämpfung von Altersarmut ist dort zwar willkommener Nebeneffekt, aber Gewerkschaften und SP stellen in der Kampagne den Kaufkraftverlust und die sinkenden Renten in der zweiten Säule ins Zentrum. Ob dieses Argument verfängt, ist freilich offen. Denn ob sich heute eine Mehrheit noch vorstellen kann, dass es irgendwo sozialpolitische Fortschritte geben könnte, wage ich manchmal zu bezweifeln. Ob wir heute noch eine Volksschule einführen könnten oder eine AHV? Wohl erst dann wieder, wenn man den Nutzen der Giesskanne einsieht.