Gedanken zur Woche: Miteinander geht’s besser

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Erschienen im P.S.

 

Manchmal erwacht mein innerer Roger Köppel. Nein, es geht nicht um weibliches Begehren oder die wahre Erfüllung der Frau. Es geht darum, dass es mich mitunter reizt, einen gesellschaftlichen Konsens in Frage zu stellen. Wenn sich alle einig sind, dann muss irgendwo was faul sein. Das ist zwar ein wenig kindisch und überheblich, aber manchmal ein ganz interessantes Gedankenspiel.

Der Filz zum Beispiel. Das Wiederstarken des Freisinns führt nicht zu einer Rehabilitation des Filzes, er selbst sucht jetzt den Filz bei anderen. Mindestens versuchte die NZZ bei der Genossenschaft ‹Kalkbreite› einen ungehörigen Filz aufzudecken. So war in diesem «Enthüllungsartikel» allerlei Skandalöses zu erfahren: Dass der Besitzer eines Bioladens ein Grüner ist. Oder dass eine SP-Schulpflegerin mit ihrer Familie in der ‹Kalkbreite› wohnt. Skandal!

Blenden wir mal zurück zu der Zeit, als der Filz, der einst der Kitt unseres Landes war, in Verruf geriet. Ich erzähle jetzt nicht die ganze, lange Geschichte vom Fall Kopp und dem Swissair-Grounding. Die Kurzversion: Irgendwann im Laufe der 1990er-Jahre und insbesondere zu Beginn des neuen Jahrhunderts geriet ein lange Zeit funktionierendes System aus den Fugen: Der Filz aus Politik, Wirtschaft und Militär, der vielfach freisinnig unseren Staat dominierte und regierte.

Wie immer bei solchen Systemen: Diejenigen, die nicht Teil davon sind, üben daran Kritik. Wie die Linken und Christoph Blocher. Und wie immer ist nicht ganz sicher, ob die Kritiker des Systems das System kritisieren oder die Tatsache, dass sie nicht dabei sind. So war es jedenfalls bei der FPÖ in Österreich, deren Exponenten, sobald sie selber an der Macht waren, den gleichen typischen österreichischen Postenschacher wie ihre Vorgänger begingen.

Die Kritik der Linken am freisinnigen Filz war für diesen irrelevant. Es ist nun mal logisch, dass man vom politischen Gegner angegriffen wird – ausserdem fehlt der Linken in einem bürgerlichen Land die nötige Stärke. Ins Mark traf sie aber die Kritik von Blocher. 2003 veröffentlichte Blocher im ‹Tages-Anzeiger› einen Artikel mit dem Titel «Mitenand gaats schlächter». Darin wandte er sich gegen den Filz von Politik und Wirtschaft. In diesem Artikel beschuldigte er mit Halbwahrheiten und ganzen Lügen eine Reihe von prominenten Freisinnigen und SozialdemokratInnen der Günstlingswirtschaft. Der Schlammschlacht zum Opfer fiel beispielsweise Balz Hösly, damaliger Fraktionspräsident der FDP im Kantonsrat, der in den darauffolgenden Wahlen abgewählt wurde. Der andere angeschuldigte Freisinnige Jean-Jacques Bertschi prozessierte jahrelang wegen Verleumdung gegen Blocher. Die Ehrverletzungsklage scheiterte schliesslich an der bundesrätlichen Immunität Blochers.

Die Diffamierungskampagne liest sich wie ein Who is Who der damaligen Zürcher Politik: Neben den genannten Freisinnigen wird Jacqueline Fehr genauso wie Elmar Ledergerber oder Werner Marti in die Pfanne gehauen. Auch der damalige Präsident der SP Dominik Schaub kam vor, genauso wie die damalige SP-Kantonsrätin Julia Gerber Rüegg. Das Ziel: Mit gezielten Halbwahrheiten Dreck zu werfen, in der Annahme, dass stets etwas hängen bleibt. Oder etwas, das eigentlich nicht skandalös ist, als skandalös darzustellen. Die Verfehlung von Dominik Schaub: Er arbeitete (damals wie heute) im Präsidialdepartement der Stadt Zürich bei einem sozialdemokratischen Stadtpräsidenten. Filz! Skandal! Jacqueline Fehr lobte in einem Statement die ZKB für familienfreundliche Arbeitsbedingungen. Ihr damaliger Mann war Mitglied des Bankrates. Filz! Skandal! Die damals selbstständige Kantonsrätin Julia Gerber Rüegg hatte ein Mandat zur Ausarbeitung eines Krippenkonzepts für die Universität Zürich. Filz! Skandal!

Was in diesem Skandalgeschrei untergeht: Wir sind grundsätzlich ein bemerkenswert korrektes und nicht korruptes Land. Mit diesem ständigen Fingerzeigen wird zudem echte Korruption verharmlost und normale Kooperation irgendwann verunmöglicht. Unser Land basiert auf dem Milizsystem. Das kann man gut finden oder nicht. Wenn man es aber gut findet, wie das mindestens SVP und FDP immer betonen, dann kann man den Politikern ihre Berufstätigkeit nicht zum Vorwurf machen, genausowenig wie GenossenschaftsbewohnerInnen eine politische Tätigkeit. Nehmen wir mal zum Beispiel Unternehmer und Alt Nationalrat Peter Spuhler (SVP). Hätte seine Firma, als er noch Nationalrat war, keine Staatsaufträge ausführen dürfen? Das wäre für einen Unternehmer, der Eisenbahn- und Tramwaggons herstellt, doch eine ziemliche Einschränkung. Warum ist es dann ehrenrührig, wenn Julia Gerber Rüegg einen Auftrag für die Universität ausführt? Unser System ist auf Leute angewiesen, die sich in der Gesellschaft – wie beispielsweise in der Schulpflege – engagieren. Warum ist es ein Problem, wenn eine Genossenschafterin der ‹Kalkbreite› das tut?

Hierzulande glauben viele WahlkampfexpertInnen, dass negative Kampagnen keine Wirkung erzielten oder gar kontraproduktiv seien. Sie sahen sich im missglückten Angriff von Ludwig A. Minelli auf Silvia Steiner bestätigt. Die Kampagne von Blocher und der SVP, die 2003 geführt wurde – die Freisinnigen wurden in der damaligen Wahlkampagne konsequent als «Weichsinnige» verhöhnt – endete im Wahlsieg der SVP und in der Schlappe der FDP.  Als Reaktion darauf – die man nur als Stockholm-Syndrom deuten kann, das bis heute anhält – machte die FDP ihren Peiniger Blocher zum Bundesrat. Damit wurde er endlich Teil des Systems, das ihn vorher verschmähte.

Die Gebrüder Meili, reiche Erben, engagieren sich im Abstimmungskampf für die Erbschaftssteuerinitiative. Das sei «widerlich», regt sich Philipp Müller im ‹Blick› auf. Die Gebrüder seien verlogen, denn sie hätten selber kurz vor dem Inkrafttreten der Rückwirkung ein Haus überschrieben. Das mag sein oder auch nicht, tut aber nur beschränkt etwas zur Sache. Was Müller eigentlich aufregt: Dass sich jemand aus seiner politischen Klientel für die andere Seite engagiert. Er kann nicht glauben, dass jemand aus politischer Überzeugung gegen die eigenen Interessen handelt. Dabei geschieht dies immer wieder. Vielen Leuten sind die Prinzipien wichtiger als das eigene Portemonnaie. So auch dem Gewerbeverband, der gegen die neue Radio- und TV-Gebühr Sturm läuft, obwohl das Gewerbe nachher weniger oder gar nichts zahlen muss.

Die Moral von der Geschichte? Erstens: Wir sollten die politische Auseinandersetzung über die Positionen der politischen Gegner führen und nicht über deren Lebensstil und die möglichen Widersprüche daraus. Ein bisschen Heuchelei und Inkonsequenz ist menschlich und kennt keine Partei. Der grösste Lügner ist in der Regel derjenige, der behauptet, er lüge nie. Zum zweiten: Es ist gut, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Das heisst aber nicht, dass vermeintliche Wahrheiten nicht eben doch Wahrheiten sind.  Die Erde ist nun mal nicht flach – selbst wenn heute einer das Gegenteil behaupten würde.

Das gilt auch für die Umwertung aller Werte, die Blocher mit «Mitenand gaats schlächter» versuchte. Mitenand gaats nicht schlächter, sondern eigentlich besser. Erfolgreiche Systeme – auch die Wirtschaft – basieren auf Vertrauen und Kooperation. Was noch nicht heisst, dass es mit manchen Leuten nicht wirklich schlechter geht.