Am Sonntag moderierte ich das Podium der SP zum Thema Faire Steuern (man nennt mich mittlerweile Filippo der SP, weil ich alles moderiere). Eingeladen war John Christensen, der Direktor der internationalen Non-Profit-Organisation Tax Justice Network, die sich vor allem mit der Frage von Steueroasen beschäftigt (siehe Interview auf Seite 12 – 13). Danach diskutierte ich mit John Christensen, Jacqueline Badran und Mattea Meyer über die Schweizer Perspektive im internationalen Steuerwettbewerb.
Das Podium war eher bescheiden besucht, und das Medienecho hielt sich ebenfalls in Grenzen. Darüber zu jammern, ist sinnlos. Es gibt viele gute Gründe dafür. Der offensichtlichste: Es ist im Moment viel los. Es ist Wahlkampf, es hat viele Veranstaltungen, die Redaktionsstuben sind dünn besetzt, die SP-Mitglieder können sich nicht zweiteilen.
Die Frage ist eher, ob es symptomatisch ist, dass das Thema Verteil- und Steuergerechtigkeit nicht interessiert. Zur Erinnerung: In letzter Zeit kamen eine ganze Reihe von Initiativen zur Abstimmung, die die Verteilgerechtigkeit ins Zentrum stellten: 1:12, Mindestlohn-Initiative und Erbschaftssteuerinitiative. Das Resultat ist bekannt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Studien zeigen, dass den Menschen viel an Verteilung und Gerechtigkeit liegt. So hat die UNiA im Zusammenhang mit der Erbschaftssteuerinitiative über tausend Menschen befragt, wie sie sich die ideale Vermögensverteilung vorstellen würden. Das Resultat war bei weitem ausgeglichener als die Realität. Die Befragten fanden, die reichsten 20 Prozent sollen 36 Prozent des Vermögens besitzen. Tatsächlich besitzen die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung 86 Prozent des Vermögens. Selbst wenn man der UNiA nicht traut, gibt es genügend Studien, die ähnliche Resultate zeigten.
Die Frage ist eher: Warum entwickelt sich dann die Verteilung – ob Vermögen und Einkommen – derart in eine andere Richtung, als sich es die Mehrheit der Menschen wünscht? Zumal wir ja in einer Demokratie leben, in der die Mehrheit das Sagen hat.
Ray Fisman, Professor an der Boston University, und Daniel Markovits, Professor an der Yale University, haben eine Reihe von Experimenten durchgeführt, die die Vorstellung von Verteilung und Gerechtigkeit von Amerikanern untersucht haben. In ihrer Studie, die im Magazin ‹Science› publiziert wurde, mussten die Probandinnen und Probanden einen Topf Geld verteilen. Sie mussten also entscheiden, wieviel sie selber behalten wollen und wieviel sie den Armen abgeben. Dabei gab es allerdings Unterschiede in der Effizienz der Verteilung. In gewissen Übungsanlagen war das Umverteilen ineffizient: Nur ein kleiner Teil des verteilten Geldes kam bei den EmpfängerInnen an. In anderen hingegen wurde das Geben belohnt, das heisst, jeder Dollar, den sie abgaben, wurde für die EmpfängerInnen verzehnfacht. Dabei wurde festgestellt, dass jene, die grosszügig verteilten, auch dann grosszügig waren, wenn die Effizienz klein war. Jene, die «geizig» waren, legten einen grossen Wert auf die Effizienz. Sie gaben nur, wenn das Geben «günstig» für sie war. Die Studie ergab, dass diejenigen aus der höchsten sozioökonomischen Gruppe Effizienz als extrem wichtig einschätzten und sich am wenigsten grosszügig zeigten. Zusätzlich zu einem repräsentativen Durchschnitt von AmerikanerInnen wurden auch zwei Gruppen von Studierenden getestet. Diese waren von der Universität Berkeley und von der Universität Yale. Beides Elite-Hochschulen, insbesondere letztere ist eine Kaderschmiede, deren AbsolventInnen ein Durchschnittseinkommen von über 160 000 Dollar erzielen. So haben beispielsweise auch die Clintons Yale besucht. Auch diese beiden Gruppen fanden Effizienz wichtiger als Gerechtigkeit. In der repräsentativ zusammengesetzten Gruppe waren die beiden Gruppen der grosszügigen und der geizigen ungefähr gleich vertreten. In Berkeley überwogen die Geizigen im Verhältnis 3 zu 2, in Yale 4 zu 1. Interessanterweise bezeichnete sich die überwältigende Mehrheit der befragten Studierenden aber als progressive Demokraten. Trotzdem stehen sie selber Umverteilung eher skeptisch gegenüber. Die beiden Autoren kommen zum Schluss, dass Umverteilung deshalb nicht auf der politischen Agenda steht – und sich die Vermögens- und Einkommensschere massiv auseinanderbewegt hat –, weil die Eliten des Landes, die auch Politik und Wirtschaft dominieren, Umverteilung ablehnen.
Das spielt natürlich ein wenig in das vielbemühte Klischee hinein, dass es einfach ist, Geld zu verteilen, das man nicht selber besitzt. Aber gleichzeitig fragt man sich, warum Privilegien und Besitz nicht grosszügiger und gelassener machen. Es klingt auch auf den ersten Blick vernünftig, auf die Wirksamkeit und Effizienz einer Massnahme zu setzen. Mit der Giesskanne zu verteilen scheint ungerecht. Genauso, wie wenn Massnahmen nicht effizient sind.
Der Ökonom Arthur Okun beschrieb die Abwägung zwischen Gerechtigkeit und Effizienz mit einem löchrigen Eimer. Wenn Geld von den Reichen zu den Armen umverteilt wird, dann ist es, wie wenn man Wasser mit einem löchrigen Eimer transportiert. Nicht alles Geld kommt also am Schluss dort an, wo es hingehört. Dabei geht es um administrative Kosten, aber auch um Anreize. Die Armen haben teilweise weniger Anreize, mehr zu arbeiten, weil ihnen sonst die staatliche Unterstützung weggenommen wird. Die Reichen versuchen ihre Steuern zu optimieren, weil sie weniger von ihrem Einkommen und Vermögen weggeben wollen. Dabei muss man festhalten, dass Okun kein Gegner von Umverteilung war.
Der löchrige Eimer beschreibt als Metapher ein Grundproblem: Kein System ist perfekt. Es gibt immer Effizienzverluste. Es gibt immer die Gefahr von Missbrauch, von Fehlanreizen und dass Hilfe nicht diejenigen erreicht, die sie brauchen. Die Frage ist, wieviel Effizienzverlust nehmen wir in Kauf? Bei den vielzitierten Missbrauchsfällen im Sozialwesen handelt es sich nicht um die grosse Masse, sondern um Einzelfälle. Und selbst bei denen sind die grossen Fische eher selten. Egal ob es um Sozialhilfe, städtische Wohnungen oder die Invalidenversicherung geht: Wer Effizienz schätzt, muss sich auch fragen, ob Misstrauensbewirtschaftung nicht ein Treiber von Ineffizienz, Bürokratie und Regulierung ist.
Eigentlich geht es aber ums Prinzip. Das Fundament unseres Strafgesetzes beruht auf der Überzeugung, es sei besser, «dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird», um William Blackstone, einen englischen Juristen aus dem 18. Jahrhundert, zu zitieren. Das gilt auch für den löchrigen Eimer. Wollen wir, dass die Armen verdursten, weil der Eimer Löcher hat, oder leben wir damit, dass halt immerhin am Schluss etwas dort landet, wo es hinkommen soll? Gerechtigkeit hat durchaus einen Preis. Aber einen, der es wert ist.