Gedanken zur Woche: Falsche Feinde

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Erschienen im P.S.

Der diesjährige Redner am ‹Tages-Anzeiger›-Meeting, der amerikanische Journalist Nicholas Lemann, inspirierte mich zu diesen Zeilen nicht durch seine Rede, sondern durch einen Artikel – wie es für einen Journalisten passend ist. In der Zeitschrift ‹New Yorker› porträtierte er Reid Hoffman, den Gründer von LinkedIn. Lemann nennt ihn den «Network Man», den Netzwerkmenschen in Anspielung auf William H. Whytes Bestseller «The Organisation Man» von 1958.

Der Organisations-Mensch (oder aber vielleicht doch eher -Mann) ist der prototypische Mensch in den 1950er-Jahren. Er arbeitet in einer grossen Firma, ist ein Rädchen in einer grossen Maschine, trägt graue Anzüge und wohnt in einem Vorort, in einem Häuschen, das genau gleich aussieht wie das seiner Nachbarn. Er will Sicherheit statt Freiheit, Konformität statt Individualismus.  Der Netzwerk-Mensch, der Prototyp der neuen Wirtschaft, ist das pure Gegenteil.

Reid Hoffman verbringt seine Zeit hauptsächlich damit, seine Netzwerke zu pflegen. Er lädt wichtige Leute ein zum Frühstück oder Abendessen, organisiert Konferenzen oder nimmt an ihnen teil. Nur ans WEF wolle er nicht mehr gehen, das sei ihm zu weit weg. Hoffman und der mit ihm befreundete Mark Pincus, Gründer der Browserspielfirma ‹Zynga›, spendeten je eine Million Dollar an Obamas Wiederwahlkampagne und treffen sich seither regelmässig mit dem Präsidenten. Pincus nutze sein 45minütiges Treffen mit dem Führer der freien Welt dazu, ihm eine Powerpoint-Präsentation zu zeigen. Der Inhalt: Ein produktemanagement-orientierter Ansatz für die öffentliche Hand. Dass Milliardäre die Nähe zur Politik suchen und PolitikerInnen die Nähe zu Medienmogulen, die heute eben Social-Media-Mogule sind, ist nichts Neues. Es geht Hoffman und seinem Netzwerk aber nicht (nur) ums eigene Geschäft, sondern darum, die Welt zu verändern.

In der Nachkriegszeit bis in die späten 1970er-Jahre, in den sogenannten ‹trente glorieuses›, prägten grosse Institutionen die Gesellschaft. Grossunternehmen, der Staat, Gewerkschaften oder die Kirchen. Sie handelten mit- und gegeneinander die Rahmenbedingungen aus und sorgten für Stabilität und Ordnung. Dann begann der Siegeszug des Neoliberalismus und der Abstieg der Institutionen. Der Paradeplatz gewinnt, der Werkplatz verliert. Die Unternehmen mussten agiler, schlanker und fitter werden. Die Angestellten auch. Erwerbsbiographien verändern sich. Arbeitnehmende bleiben nicht mehr ihr Leben lang bei der gleichen Firma, wechseln mehrfach Arbeitgeber und Beruf. Gleichzeitig verschärfen sich die Einkommensunterschiede, Kapital gewinnt, Arbeit verliert an Bedeutung. So weit, so bekannt.

All diese Probleme können durch das Internet, durch Netzwerke gelöst werden, glaubt Hoffman. Arbeit wird sporadischer, temporärer und mehr informell. Die Karriere wird nicht mehr durch den Arbeitgeber definiert, sondern durch das Netzwerk. Das Selbst wird unternehmerisch. Schafft sich seine Arbeitsstellen selber.

Das Zauberwort von Silicon Valley ist disruptiv. Disruptive Technologie und Innovation. Dabei geht es nicht mehr darum, mit einem neuen Produkt auf dem Markt in den Wettbewerb zu treten. Sondern mit dem neuen Produkt den bestehenden Markt völlig umzuwälzen. Uber und AirBnB sind die beiden bekanntesten Beispiele. Uber ist nicht einfach ein weiterer Player auf dem Taximarkt. Uber will den bestehenden Taximarkt zerstören und mit Uber ersetzen.

Viele dieser Technologiefirmen haben ein Quasi-Monopol in ihrem Bereich, Google bei der Internet-Suche, Facebook bei den sozialen Netzwerken, Amazon im Versandhandel.  Die Innovationen sorgen für hohe Gewinne, schaffen aber fast keine Arbeitsplätze. Der Kurznachrichtendienst Whatsapp wurde von Facebook für 19 Milliarden gekauft. Zu dieser Zeit beschäftigte er gerade mal 55 Angestellte. Silicon Valley-Bad-Boy Peter Thiel sieht in den Monopolen kein Problem – im Gegenteil. Monopole sind gut, Wettbewerb sei kommunistisch, liess er sich verlauten. Ob er wohl Marx gelesen hat?

Im Silicon Valley präsentieren sich knallharte kapitalistische Interessen mit linkem Habitus und Rhetorik. Die Gegenkultur, der Nonkoformismus hat Einzug gehalten in der Teppichetage. Meditation und Moneten, Grateful Dead und Steueroptimierung. Es ist alles kein Widerspruch mehr.  Die Sharing Economy verspricht ein neues Wirtschaftsmodell: Mehr Lebensqualität durch weniger eigenen Besitz. Klingt wie ein ökosozialistisches Projekt. Uber, das Flagship der Sharing Economy, ist das genaue Gegenteil davon.

Umso anachronistischer wirken dabei die inszenierten Feindbilder der Linken. Cédric Wermuth sprach an der Alstom-Demo in Baden von der Elite, die am WEF in Davos «Prosecco und Lachsbrötli» geniesse.  Die Juso veröffentlichte eine Karikatur, die einen gierigen, fetten Spekulanten zeigt, die an antisemitische Propaganda der 1930er-Jahre erinnert. Fairerweise muss man sagen, dass sie sich sofort entschuldigt und die Karikatur entfernt haben. Das Problem: Mal abgesehen davon, dass sich auch ein Arbeiter Prosecco und Lachsbrötli – im Gegensatz etwa zu Champagner und Kaviar – leisten könnte, das Bild ist schief. Der heutige Überkapitalist macht keine Hummerrennen mehr, wie dies die Börsianer der 1980er-Jahre taten. Sein Getränk ist nicht Dom Perignon. Sondern wohl ein Fair-Trade-Kaffee oder ein Bio-Smoothie. Und er sieht Cédric Wermuth ähnlicher als der ikonischen Monopoly-Figur.

Der Neoliberalismus hat geschafft, was dem real existierenden Sozialismus nie gelungen ist: Eine klassenlose Gesellschaft ist entstanden. Mindestens in der politischen Diskussion, wie Philip Mirkowski in seinem Buch «Untote leben länger: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist» darlegt. Es gibt gar keine Arbeiter mehr und keine Bonzen. Es gibt nur noch den Mittelstand. Selbst für den selbsterklärten Sozialisten Bernie Sanders.

Der Unternehmer seines Selbst, das sich als eigene Marke definierte Ich, das Humankapital, ist das Kernstück des Neoliberalismus, wie es Foucalt schon Ende der 1970er-Jahre erkannte. Das Problem: Wie soll man etwas bekämpfen, das man bereits selber geworden ist? Mein eigener Lebenslauf zeigt mir: Auch ich bin ein Netzwerk-Mensch, der sich periodisch neu erfunden hat. Seines eigenen Glückes Schmied zu sein ist eben auch eine emanzipatorische Vorstellung. Individualismus statt Konformismus, die Freiheit der Lebensgestaltung, sich selber zu entfalten. Das wollen gerade die Linken. Ganz zu schweigen davon, dass wir alle bei Amazon bestellen oder über AirBnB eine Ferienwohnung suchen.

Die klassische Dichotomie links gleich Staat und rechts gleich Markt, links gleich Kollektiv und Rechts gleich Individuum gilt nicht mehr. Wenn es sie denn je gegeben hat. Wie man sieht, wollen die Neoliberalen gar nicht weniger Staat, sie tun nur so. Sie setzen ihn einfach für andere Zwecke ein. Das verführerischste Kollektiv heute: der Nationalstaat. Er sorgt für Sicherheit und die Seinen (und natürlich nur für die Seinen). Wir müssen die Widersprüche diskutieren. Aber zuerst müssen wir uns von den alten, falschen Feinden trennen. Im positiven wie auch im negativen Sinn.