Gedanken zur Woche: Späte Reue

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Erschienen im P.S.

Ich werde oft gefragt, ob ich Chinesisch spreche. Wenn ich das verneine, finden das die Leute furchtbar schade. Das finde ich auch. Und es gehört zu den vielen Dingen, von denen einem als Kind gesagt wird, man würde es später bereuen. Das glaubt man dann als Kind nicht, muss aber später zugeben, dass es stimmt. Auf jeden Fall habe ich mich irgendwann als Kind hartnäckig geweigert, chinesisch zu sprechen, wohl weil ich nicht anders sein wollte. Jetzt bin ich zwar wie alle anderen, aber dafür spreche ich kein Chinesisch. Wie gesagt, das ist bedauerlich – aber wenn ich ehrlich bin, Chinesisch sprechen zu können wäre wie jonglieren oder Rollbrett fahren zu können. Es wäre cool. Aber ich brauche es nicht wirklich.

Ich kann dafür relativ gut Englisch. Was auch cool ist. Ich aber ebenfalls im Alltag (ausser im Freizeitverhalten) nicht wirklich brauche. Die einzige Sprache, die ich wirklich können sollte, ist Französisch. Das ist die einzige Sprache, die ich jemals beruflich brauchte. Politisch sowieso. Ich verstehe Französisch relativ gut. Damit kann man sich in der Regel durchschlagen, weil in der Schweiz die Regel gilt, dass jeder in seiner Sprache spricht. Damit ich aber auch in der anderen Sprache mehr als nur radebrechen kann, nehme ich wieder Französisch-Stunden.

Der Sprachenstreit ist im Moment wieder ausgebrochen. Der Kanton Thurgau will Französisch nicht mehr an der Primarschule unterrichten, sondern erst ab der Oberstufe. Damit verstösst er gegen die Abmachung der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz, die besagt, dass in der Primarschule zwei Sprachen, davon eine Landessprache, unterrichtet werden sollen. Jetzt will Alain Berset mit einem revidierten Sprachengesetz eingreifen. Das richtet sich neben dem Thurgau auch gegen die Kantone Uri oder Appenzell Innerrhoden, die das Modell noch nicht umgesetzt haben. Zudem gibt es noch eine Reihe von anderen Kantonen, in denen entsprechende Initiativen geplant oder hängig sind. Argumentiert wird damit, dass zwei Sprachen die Kinder überfordern würden. Und man daher nur eine Sprache unterrichten soll. Das ist zwar offen formuliert. Gemeint ist aber das Frühfranzösisch.

Nun bin ich als Nationalrätin, die Französisch können muss, nicht repräsentativ. Aber ich habe zudem zweimal in nationalen Organisationen gearbeitet, wo nun mal ebenfalls die ganze Schweiz vertreten ist. Auch in Unternehmen, die im Heimmarkt tätig sind, braucht man Französisch. Englisch braucht man für akademische Karrieren oder in international operierenden Unternehmen.

Vor ein paar Tagen unterhielt ich mich mit ein paar Freundinnen, die darüber sprachen, wie schade es ist, dass sie die Sprachen, die sie einst gelernt hatten – von Englisch über Spanisch – gar nie mehr brauchen würden. Weder im Beruf noch privat. Und so wird es wohl den meisten gehen. Auch den Thurgauer Kindern. Sie werden weder das Englisch noch das Französisch je brauchen.

Das ist auch nicht weiter tragisch. Ich brauche auch Integralrechnungen, die Programmiersprache COMAL, Latein, chemische Elemente, Schweizer Vogelarten und auch das Wissen über die Anatomie eines Kuhauges und vieles weitere, was man für die Schule, aber nicht fürs Leben lernt, nicht mehr. Dennoch finde ich es nicht unsinnig, diese Dinge mal gelernt oder wenigstens kennen gelernt zu haben.

Sowohl wissenschaftlich wie auch didaktisch ist der Nutzen von Frühenglisch und Frühfranzösisch umstritten. Bringen die zwei Stunden pro Woche wirklich etwas? Können die Kinder dann am Ende ihrer Schullaufbahn besser Französisch als diejenigen, die es erst in der Oberstufe hatten?

Das kann ich und will ich gar nicht beurteilen. Aber es geht letztlich um zwei Dinge: Erstens hat man einmal beschlossen, dass man das Schulwesen in der Schweiz harmonisiert. Das hat gute Gründe, denn es ist einigermassen albern, in einem derart kleinen Land 26 total unterschiedliche Schulsysteme zu betreiben. Und die Menschen sind nun mal mobiler als früher. Und zur Harmonisierung muss man sich gemeinsam finden – und dann gibt es eben am Ende einen Kompromiss. Und auf dem Reissbrett und in den Studien gibt es vermutlich bessere Lösungen. Und man darf auch darüber nachdenken. Aber man findet vermutlich trotzdem keine, die allen 26 Partnern in jedem Detail passt.

Das zweite ist der nationale Zusammenhalt. Das ist ein Argument, das den Romands extrem wichtig ist. Und das die Deutschschweizer überhaupt nicht verstehen. Den meisten DeutschschweizerInnen wäre es auch Wurst, wenn man sich auf Englisch mit WestschweizerInnen verständigen würde. Und im Übrigen, finden die DeutschschweizerInnen, können die anderen auch kein Deutsch.

Das mag im Durchschnitt sein. Im Biotop des Bundeshauses ist es anders. Die meisten Romands können ausgezeichnet Deutsch. Aus einem relativ einfachen Grund: Wenn sie allianzfähig sein wollen, dann müssen sie die Sprache der Mehrheit können. Weil sie nicht davon ausgehen können, dass die Mehrheit sie versteht. Das ist ein einigermassen demütigendes Erlebnis. Das auch in die Emotionalität dieser Frage mitspielt. Die Romands sind eine Minderheit. Sie wissen es und sie spüren es. Und sie bemühen sich. In der Romandie wird Deutsch als erste Sprache ab der dritten Klasse unterrichtet. Und darum fänden sie es eine nette Geste, wenn sich die Mehrheit auch ein wenig bemühen würde.

Die Stärke einer Demokratie zeigt sich darin, dass Minderheiten akzeptieren, dass sie in der Minderheit sind, und sich dennoch nicht unterdrückt fühlen. Dazu braucht es aber eine Mehrheit, die mit der Minderheit respektvoll umgeht. Die Frage des nationalen Zusammenhalts ist für Zürcherinnen und Thurgauer Wurst. Wir brauchen sie nicht. Aber für die Romands ist sie existenziell. Und bei einem Kompromiss sollte auch derjenige mehr geben, dem die Angelegenheit weniger wichtig ist.

Es gibt immer eine Diskrepanz zwischen Sonntagspredigt und politischer Realität. Wir sind zwar stolz auf unser mehrsprachiges Land und preisen uns als Beispiel. Am Schweizer Wesen – heisst es in den 1. August-Reden – könnten die EU und die Belgier genesen. Dabei vergessen wir, dass die Zelebration dieser vier Sprachen und Kulturen ausserhalb Bundesberns nicht mehr gross stattfindet. Wer macht denn noch ein Welschlandjahr? Wieviel berichten die Medien über politische oder kulturelle Ereignisse in der Romandie?

Um etwas pathetisch zu werden: So wie der Frieden in Europa nicht ganz so selbstverständlich ist, wie es viele meinen, so wenig ist es der Sprachfrieden in der Schweiz. Was hält die Schweiz davon ab, zu einem zweiten Belgien zu werden? Nur die Tatsache, dass man sich bis anhin darum bemüht hat, dass es nicht so ist.

Als letztes – aber das mag das klitzekleine bisschen chinesische Prägung sein, die ich vielleicht dennoch habe – verstehe ich nicht, warum man in der Schweiz so schlecht mit bildungspolitischem Ehrgeiz umgehen kann. Ich war immer eine faule Schülerin, deren Hauptehrgeiz darin bestand, mit minimalstem Einsatz das maximalste Resultat herauszuholen. Aber das heisst nicht, dass das der Massstab sein sollte. Warum nutzen wir die Chance nicht, die die Mehrsprachigkeit unserem Land gegeben hat? Wer französisch und englisch kann, hat auf dem nationalen wie auf dem internationalen Arbeitsmarkt mehr Möglichkeiten.  Und ja – sonst bereut man es später im Leben. Ehrlich.