Rolf Dobelli, Schriftsteller und Autor von gehobenen Selbsthilfebüchern, gab dem ‹Tages-Anzeiger› ein bemerkenswertes Interview, mit dem er Werbung machte für sein neustes Buch, «Die Kunst des digitalen Lebens – Wie sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern». Dobelli preist darin seine News-Diät an: Er konsumiert keine Zeitungen, keine sozialen Medien, keine Tagesschau, nichts. Das führt dazu, dass er nur drei von sieben Bundesräten nennen kann und auch keine Ahnung davon hat, dass die FDP, die Partei, die er wählt, sich neu mit Klimapolitik befasst. Sein Motto: Wenn etwas wirklich wichtig ist, dann bekommt er es irgendwann schon mit. Nun gehört es zu den Privilegien einer freiheitlichen Gesellschaft, dass man sich nicht für Politik interessieren muss, aber es schien mir doch bemerkenswert, dass man sich mit seinem Nichtwissen brüstet. Unter amerikanischen Feministinnen gibt es ein Bonmot, das übersetzt so lautet: «Gott, gib mir das Selbstvertrauen eines mittelmässigen Mannes». Das passt zwar wohl zu Dobelli, aber das Phänomen scheint mir nicht auf Männer beschränkt.
Nehmen wir die kuriose Faszination für QuereinsteigerInnen in der Politik. Kein Mensch würde bei Herzproblemen zum Metzger gehen, aber in der Politik findet man es offenbar toll, Leute zu wählen, die von Politik keine Ahnung haben. Oder sich Leute als Regierungsoberhaupt wünscht, die man wohl kaum als eigene Chefs haben möchte. Zum Beispiel ein rüder Reality-TV-Star oder ein korrupter Millionär. Aber auch der ehemalige Kanzler unseres Nachbarlands, der sich neben seiner Jugend vor allem durch ideologische Geschmeidigkeit auszeichnet. Und Kurz wurde nicht nur gewählt, er krempelte auch noch eigenhändig eine Volkspartei mit langjähriger Tradition zum Kanzler-Wahlverein um. Aus der Christdemokratie wurde Team Kurz – die neue Volkspartei. In der Selbstdeklaration keine Partei mehr, sondern eine Bewegung. Wofür? Für sich selbst. Macrons En Marche funktioniert ähnlich. Die Person ersetzt die Partei.
Viel wurde über den Aufstieg der RechtspopulistInnen geschrieben. Nach dem Wahlsieg der AfD in Sachsen und Brandenburg wird wohl auch noch eine Weile über die Gründe sinniert. It’s the economy, stupid, war mal das Leitmotiv des Wahlkampfs von Bill Clinton. Lang ist es her, es waren die 1990er. Für viele ist dies heute noch die Erklärung. Weil die SozialdemokratInnen die Interessen der Arbeiterklasse verraten haben, laufen ihnen die Leute weg. Nur ist es wohl komplexer. Menschen – vor allem weisse Männer – ohne Hochschulbildung haben Trump gewählt. Aber wie die beiden Politologen Herbert Kitschelt und Philip Rehm in einer Studie festgestellt haben, gehören diese keineswegs zum Prekariat. Im Gegenteil, die Mehrheit zählt zu den oberen Einkommensklassen. Nicht mehr das Einkommen sei in der heutigen Wissensgesellschaft die Trennlinie zwischen den Parteien, so die beiden, sondern der Bildungsgrad. Gölä und Trauffers vergoldete «Büezer-Tour» ist also kein Widerspruch, sondern Bestätigung dieser These. It‘s the (multi)culture, stupid.
Das sieht auch die Philosophin Isolde Charim in ihrem Buch «Ich und die Anderen» so. Die Kultur und die Identität sind die zentrale Auseinandersetzung in einer pluralisierten Gesellschaft. Die Pluralisierung, die Zunahme der Vielfalt, habe unsere Identitäten brüchig und widersprüchlich gemacht. Parteien, Religionen und andere Institutionen sind lediglich eine unter vielen Optionen. Wer katholisch geboren wurde, wird nicht zwangsläufig katholisch sterben. Sondern vielleicht als Atheist oder als Buddhist. Das führt dazu, dass jene, die vorgeben, eine eindeutige Identität anzubieten, sei es als Büezer, als Gläubige, als Rocker oder als Schweizerin, Zulauf erfahren. Der mit der Pluralisierung einhergehende Bedeutungs- und Statusverlust von jenen, die sich gewohnt waren, die Gesellschaft zu dominieren, wie eben beispielsweise die vielgescholtenen alten weissen Männer, führt bei einigen zu einer Sehnsucht nach Eindeutigkeit (und der Hierarchie) früherer Identitäten. Make America great again. Die Rechtspopulisten bedienen laut Charim genau diese Sehnsucht, und sie koppeln sie mit Emotionalität. Politik bestehe aus teilbaren und unteilbaren Konflikten: Fragen der Anerkennung und der Würde sind unteilbar, Verteilung hingegen ist teilbar. Die Politik habe die Tendenz, unteilbare Konflikte zu teilbaren (und lösbaren) machen zu wollen. Dabei brauche Politik beides: Emotionen und Rationalität. Gerade die Sozialdemokraten hätten sich in den vergangenen Jahren in erster Linie auf teilbare Konflikte konzentriert. Sie haben nicht – wie oft behauptet – die soziale Frage aufgegeben, sondern die Frage der Würde, des Respekts und der Anerkennung. Das sei früher im Sozialstaat angelegt gewesen, in dem den Menschen nicht nur Sicherheit, sondern auch Rechte erteilt wurde. Heute gehe es nur noch darum, Menschen für den Arbeitsmarkt fit zu machen.
Zudem sei die heutige Politik hedonistisch geworden. Damit ist nicht Spass gemeint, sondern dass wir nicht mehr auf eine ferne Glücksvorstellung, sei dies Paradies oder Sozialismus, hinarbeiten. Politik findet im Hier und Jetzt statt. Und: Der Erfolg von Bewegungen wie En Marche sei, dass dort Menschen als Einzelne und nicht als Masse angesprochen würden. En Marche organisierte überall im ganzen Land Bürgerversammlungen, wo sich BürgerInnen trafen, ihre Probleme schilderten, über Lösungen diskutierten. Nicht als Gleiche, nicht als Gruppen, sondern als Individuen: «Was die Leute vereint, ist nur der Wille, ihre Probleme zu lösen. Gemeinsam.»
Der Hedonismus beschreibt auch die andere neue erfolgreiche Figur im Politikbetrieb: Den Exzentriker. Das ist es, was Boris Johnson, Donald Trump und Jörg Haider vereint. Sie sind eben gerade keine Normalos. Man will kein Bier mit ihnen trinken, man kauft ihnen keine Occasions-Autos ab, man will sie vielleicht auch nicht persönlich als Chefs. Aber man will, dass sie das Leben leben, dass man sich selber nicht zu leben getraut. Sie sind Rockstars: Sex, Drugs and Politics. Darum prallt auch all das an ihnen ab, was normalen PolitikerInnen zum Verhängnis wird: Lügen, Affären oder Korruption. Der Starbetrieb in der Politik ist nicht neu, aber scheint sich zu akzentuieren: Jeder rechts versucht sich als kleiner Trump, jeder in der Mitte als Mini-Macron und jede links als Westentaschen-AOC zu inszenieren.
Was hat das mit Rolf Dobelli zu tun? Alles und nichts. Vielleicht lediglich die Erkenntnis, dass Informiertheit und Wissen wohl nicht allein ausreichen. Aber ich dennoch glücklich bin, solange es noch Menschen gibt, die mehr Wissen wollen.