Die Grüss-Schwäche

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Meine grösste Schwäche, erschienen bei clack.ch

Manche Leute haben Angst vor Spinnen, andere bügeln ihre Unterwäsche. Ich habe eine Grüss-Schwäche: Ich übersehe oft Menschen auf der Strasse, die ich kenne, ich vergesse es, Grüsse auszurichten, verabschiede mich französisch und brummle am Morgen etwas Undefinierbares im Büro, statt laut und deutlich allen einen guten Morgen zu wünschen.

Ein schweres Handicap in einem Land, in dem das «Grüezi» so wichtig ist. Schon viel Anlass für Missverständnisse oder Missfallen. Nun muss ich hier zu meiner Verteidigung sagen, dass ich nicht absichtlich nicht grüsse. Meine Grüss-Schwäche ist eine Mischung aus Zerstreutheit und verdrängter Schüchternheit. Zudem bin ich offensichtlich nicht Multi-Tasking-fähig. Ja, ich bin eine Frau. Aber ich glaube, was Miriam Meckel in einem Interview mit der Tageswoche sagte: Nämlich, dass Menschen – wie Computer – nicht fürs Multi-Tasking gemacht sind. Das Gehirn prozessiert seriell und nicht parallel. Das Multi-Tasking von Frauen sei ein Mythos. Und in meinem Fall stimmt es: Ich kann nicht im Tram aufs Handy starren und gleichzeitig noch merken, wer einsteigt.

Nun mag Gedankenverlorenheit bei Professorinnen oder Künstlern charmant wirken, bei Normalsterblichen wie mir wirkt es nur asozial und arrogant. Und das bin ich nun doch nicht – mindestens versichern mir das auch unverdächtige Quellen. Ich entschuldige mich also präventiv und ex-post bei allen, die ich aufgrund meiner Grüss-Schwäche verärgert habe. Es ist eine Schwäche, ich muss daran arbeiten.
Nur manchmal meldet sich meine innere Rebellin und meckert, dass diese Grüsserei doch auch ein bisschen nervig ist. Warum muss man bei einer Party eine dreiviertel Stunde bevor man eigentlich gehen will, bereits mit den Verabschiedungen anfangen? So dass man eine dreiviertel Stunde Party verpasst – oder eine dreiviertel Stunde länger bleiben muss als man will? Warum soll man wildfremde Leute auf der Strasse grüssen (ein schwerer Stadt-Land-Graben) – warum halbfremde Leute küssen? Und warum wird ständig angestossen? Reicht nicht einmal? Oder sogar ein einfaches „Söll gälte“?
Doch unterm Strich zähl eben nicht nur ich. Wenn ich mich gesellschaftlich falsch verhalte, liegt es vielleicht eben doch an mir und nicht an den anderen. Und was ist Grüssen anders als ein Ausdruck von Respekt und Höflichkeit? Und dagegen gibt’s nichts einzuwenden. Söll gälte.