Der Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville bereiste zwischen 1831 und 1832 die Vereinigten Staaten und schrieb danach das berühmte Buch «Über die Demokratie in Amerika». De Tocqueville war eigentlich der Meinung, dass Freiheit in einer Demokratie gefährdet sei, denn in einer Demokratie würde die Gleichheit mehr geschätzt als die Freiheit. Es drohe daher eine «Tyrannei der Mehrheit». In den Vereinigten Staaten dagegen sei dies nicht so, die Situation der Amerikaner sei aussergewöhnlich und nicht mit anderen demokratischen Völkern vergleichbar. Das ist sozusagen die Geburtsstunde des amerikanischen Exzeptionalismus. Jenes Glaubens daran, dass Amerika nicht nur ein besonderes und einzigartiges Land sei, sondern dadurch auch in einer Pflicht sei, seine Werte in der ganzen Welt zu verbreiten und teilweise auch aufzuzwingen.
Hierzulande heisst das nicht Exzeptionalismus. Sondern Sonderfall. Auch in der Schweiz geht man davon aus, dass wir als Land aufgrund unserer Geschichte, Lage und Kultur eine einzigartige Stellung mit Vorbildcharakter einnehmen, wie es im Historischen Lexikon der Schweiz heisst. Wir sind zwar vielleicht nicht auserwählt, aber sicher ganz aussergewöhnlich und zwar aussergewöhnlich gut. Mindestens einfach besonders anders und sowieso speziell. Unmöglich scheint vor allem die Vorstellung, ein anderes Land könnte irgendwann mal etwas anders und sogar besser machen.
Zwar haben wir mal das Zweikammernsystem von den Amerikanern abgeguckt, aber seither sind wir selbstgenügsam und selbstzufrieden geworden. Ich erinnere mich beispielsweise an Studienreisen im Zürcher Gemeinderat, die oft im gemeinsamen Fazit endeten, dass bei uns halt schon alles viel besser ist. Selbst wenn man mit der Schulkommission Pisa-Abräumer Finnland besucht.
Nun ist der Schweizer Exzeptionalismus, da mit keinerlei imperialer Absicht verbunden, ja im Normalfall harmlos. Die SchweizerInnen sind zufrieden und alle anderen interessiert es nicht so. Nur manchmal versteht vielleicht die EU etwas zuwenig, dass wir doch eine besonders spezielle Extrawurst verdient hätten.
Und dann kam Corona. Die Schweiz wäre eigentlich in einer bemerkenswert guten Ausgangslage gewesen. Ein reiches Land, ein hochstehendes Gesundheitssystem, eine führende Pharmaindustrie und Universitäten und ForscherInnen von Weltruf. Und in der ersten Welle sah es auch so aus, als hätten wir die Geschichte ganz besonders gut gemeistert. Ohne Totalüberlastung des Gesundheitssystems und mit Augenmass, ohne Ausgangssperren oder übertriebene Härte. Es folgte der Herbst und die zweite Welle. Kanton und Bund schieben sich seither gegenwärtig die Verantwortung zu. Derweil wird in der Schweiz im internationalen Vergleich überdurchschnittlich gestorben, das betroffene Gewerbe und die Selbstständigerwerbenden unterdurchschnittlich unterstützt. Wohl weil Bundesrat Ueli Maurer «jeder Franken» an neuen Ausgaben «reut». Dennoch hat wohl eine Mehrheit der Bevölkerung und Politik das Gefühl, der Schweizer Weg sei eine besonders gute Sache. Der Sonderfall lebt und gedeiht auch wider besseren Wissens.
Fast alle ÖkonomInnen sagen seit Monaten, es gäbe keinen Widerspruch zwischen Gesundheit und Wirtschaft. Studien zeigen auch, dass auch Länder ohne harte Massnahmen Wirtschaftseinbussen hatten, teilweise sogar schlimmere. Dennoch ist in der Schweiz der fatalistisch-resignierte Darwinismus von CVP-Nationalrat Alois Gmür weit verbreitet. «Die hohen Todeszahlen sind der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir die Wirtschaft einigermassen am Laufen erhalten», meinte Gmür gegenüber ‹20 Minuten›. Auch beliebt ist die Haltung, dass es ja nur die Alten träfe. Zum Beispiel FDP-Ständerat Andrea Caroni im ‹Tages-Anzeiger›: «Bei allem Respekt vor jedem Todesfall: Ich wäre froh, ich würde das durchschnittliche Alter der Corona-Toten erreichen.»
Dazu kommt der Glaube, wir könnten uns die Covid-Bekämpfung und die Unterstützung der betroffenen Betriebe nicht leisten. Und wenn wir Schulden machen würden, dann müssten wir diese so schnell wie möglich abbauen. Dies basiere allerdings weniger auf Wirtschaftstheorie, denn auf ideologischer Überzeugung, wie der Ökonom Michael Graff im letzten ‹P.S.› ausführte. Auch Mark Dittli schreibt in seiner Analyse auf ‹The Market› in der NZZ: «Im Grunde genommen ist es gegen die ökonomische Vernunft, Schulden abzuzahlen und auf produktivitätssteigernde Investitionen zu verzichten, wenn man sich zu Negativzinsen finanzieren kann.» Bis Ende 2019 hätte man diese Fixierung auf das Dogma der Schuldenminimierung einfach als Schweizer Eigenart abtun können, so Dittli weiter. «Mit der Pandemie hat sich diese Eigenheit jedoch als fatal erwiesen. Der schweizerische Weg, Staatsschulden als etwas grundsätzlich Schlechtes anzusehen und ihren Anstieg sogar mitten in einer Notlage nach Kräften zu limitieren, wurde zum gefährlichen Dogma.» Dieses Dogma habe dazu geführt, dass die Pandemie nicht effektiv bekämpft wurde. Daniel Graf schreibt in der ‹Republik›: «‹Spare in der Zeit, so hast du in der Not› war einmal der Slogan des gesunden Menschenverstandes. Mittlerweile scheint zu gelten: Die Not soll bloss nicht der Sparsamkeit im Weg stehen.» Ich habe mich schon immer gefragt, was denn die künftigen Generationen davon haben sollen, wenn es den heutigen Menschen schlecht geht. Doch Sparen ist mittlerweile zum Selbstzweck verkommen.
Immerhin hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats entschieden, vom Knauserkurs abzusehen und Härtefälle etwas grosszügiger zu entschädigen. Leider zeigt die Geschichte – siehe Geschäftsmietengesetz –, dass damit noch nichts garantiert ist. Bemerkenswert ist aber auch dieser Satz in der Medienmitteilung: «Was schliesslich die vom Bundesrat diskutierten Verschärfungen der Massnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus angeht, so legt die Kommission grundsätzlich grossen Wert darauf, dass solche nur in Abhängigkeit von der tatsächlichen epidemiologischen Lage und nicht bereits vorsorglich verhängt werden». Ja, wo käme man hin, wenn man vorsorglich handeln würde?
Mit der Schwierigkeit zu vorausschauendem Handeln ist die Schweiz bei Weitem nicht alleine. Eine Pandemie ist schliesslich eine ausserordentliche Situation, in der nun mal Fehler passieren. Denn wer Entscheidungen fällt, greift auch mal daneben. Die Frage ist, ob man auch aus Fehlern lernt. Wenn man schon nicht von anderen lernen kann, dann vielleicht wenigstens aus der eigenen Geschichte. Wir werden sehen. Leider aber erst im Nachhinein.