Alles wird gut?

98/331

Es gab so diesen kurzen Moment, als man dachte, es kommt ein neues Jahr. Und alles wird gut. Dann folgt der Kater. Das böse Erwachen. Die Erkenntnis, dass alles auch im Januar noch gleich ist. Die ersten Vorsätze gebrochen, das Wetter grau, die Tage kurz.  Die Corona-Zahlen sinken zu wenig. Trump versucht immer noch, das Wahlresultat umzustossen.  Alles wie bisher?

 

Philipp Hildebrand, gestrauchelter Nationalbanker, will OECD-Chef werden. Warum? Um Klimawandel und Ungleichheit zu bekämpfen. Das sagt er wenigstens der ‹Sonntags-Zeitung›. Und er rät dabei, Marx zu lesen: «Wer Eigentümer von Finanzaktiven ist, profitiert, die Löhne hingegen sind nicht gestiegen. Genau diese Dynamik hat bereits Karl Marx beschrieben. Daher habe ich in dieser Zeitung vor zwei Jahren den Tipp gegeben, Marx zu lesen. Wenn man nur noch mit Vermögenswerten statt mit Einkommen sein Leben bestreiten kann, dann haben wir ein grosses Problem. Die Bekämpfung der Ungleichheit steht daher für mich im Zentrum.» 

 

«Die Kluft zwischen Arm und Reich macht uns Sorgen», meinte UBS-Präsident Axel Weber im November in einem Interview mit der NZZ am Sonntag. Die Sorgen teilt auch WEF-Gründer Klaus Schwab seit längerem. «Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Ungleichheit sind tiefgreifend und weitreichend», wird er in einer Mitteilung zum letzten WEF zitiert. Beim WEF wird sowieso gerne über Ungleichheit diskutiert. Über den Klimawandel, über soziale Gerechtigkeit und über Armut. Wäre da nicht die Teppichetage aus Politik und Wirtschaft vertreten, könnte man zuweilen angesichts der Themenwahl des Programms an eine sozialdemokratische Bildungsveranstaltung denken.

 

Nur: Dieselben, die sich gepflegt über Ungerechtigkeit sorgen oder über den Klimawandel, tun selber nichts dagegen, das Problem zu lösen. Sie sind oft selber die Treiber ebendieser Entwicklungen.  Auf Facebook ärgert sich Dominik Gross, steuerpolitischer Experte von Alliance Sud darüber: «Die liberale Elite übernimmt derzeit linke Diskurse (globale Ungleichheit, Klimakrise, Feminismus, Black Lives Matter…), ohne ihre reale Politik entsprechend anzupassen und emanzipativer auszurichten. Das ist eine neue Form des Populismus in der ‹Mitte› (Anerkennung realer Probleme bei gleichzeitiger Präsentierung von Scheinlösungen für diese Probleme) und darauf sollten wir nicht hereinfallen. Dieser Populismus macht emanzipatorische Politik nicht mehrheitsfähiger, sondern versucht, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen.» Exemplarisch dafür sei Emmanuel Macron oder die türkis-grüne Koalition in Österreich. Eine Allianz mit solchen Kräften sei unproduktiv, weil sie keinen echten Fortschritt bringt, aber ihn suggeriert. Das sei wie die Lippenbekenntnisse der Konzernverantwortungs-Initiativen-GegnerInnen, die alle meinten, sie seien ja selbstverständlich auch für die Einhaltung der Menschenrechte, aber eben nicht genauso.

 

Es gibt das bekannte Zitat von Margaret Thatcher, wonach ihre grösste Errungenschaft Tony Blair und New Labour seien. Denn sie hätte den politischen Gegner dazu gebracht, die Meinung zu ändern. Ob sie das wirklich so gesagt hat ist nicht ganz klar, es geht auf die Anekdote eines Abgeordneten zurück. Aber es scheint doch mindestens sehr gut erfunden und verbreitete sich wohl auch deshalb so hartnäckig. 

 

Ich war ja nie bei den Juso, denn ich bin weder der Pfadilager- noch der Lesegruppen-Typ.  So fehlt mir zwar (zum Glück) die ideologische Schulung, aber kenne genügend ehemalige Juso, um zu wissen, dass dabei Gramsci eine wohl grössere Rolle spielt als Marx. In der Kurzfassung prägte der italienische Philosoph Antonio Gramsci das Konzept einer kulturellen Hegemonie. Dabei geht es darum, dass eine Herrschaft nicht in erster Linie über Gewalt funktionieren kann, sondern in einer Kombination von Zwang und Konsens. Die herrschende Ordnung bezieht ihre Kraft also daraus, dass die Beherrschten den Konsens teilen. Will man also diese Ordnung verändern, muss man da ansetzen und den Glauben, die Ideen und letztlich den Konsens verändern.  

 

Sollte Gramsci recht haben, so ist es also ein Fortschritt, wenn der Konsens solidarischer und ökologischer wird. Selbst wenn den Worten noch keine Taten folgen. Richard Nixon sagte noch einst: «Wir sind alle Keynesianer.» In den 1990ern waren alles Neoliberale. Die Lippenbekenntnisse sind also durchaus ein Fortschritt. 

 

Zum zweiten gibt es auch tatsächlich inhaltliche Überschneidungen und konkrete politische Fortschritte, die in der Allianz mit der fortschrittlichen Mitte erreicht werden können. Man kann über liberalen Feminismus oder Anti-Rassismus schnöden, aber Fortschritte bei der gesetzlichen Gleichstellung und beim Kampf gegen Diskriminierung kommen allen zugute. Diversität kann auch zu handfesten Fortschritten führen: Es gibt Studien, die aufzeigen, dass sich beispielsweise Frauen in der Lokalpolitik mehr für Frauen- und Familienanliegen einsetzen und dafür auch mehr Ressourcen sprechen. Mutterschutz, Elternzeit und eine gute und bezahlbare Kinderbetreuung sind im Interesse der Verwaltungsrätin und der Reinigungsangestellten. Sie sind also soziale Fragen und nicht nur Fragen der Repräsentanz. Auch beim Thema Klima könnte es diese Allianzen geben. Blackrock – für die Philipp Hildebrand arbeitet – mag in vielem eine zweifelhafte Firma sein, aber sie spricht sich mindestens dezidiert für eine aktive Klimapolitik aus. Wenn sich grössere Teile der Wirtschaft von der ideologischen Geiselhaft der fossilen Industrie befreien, ist zwar damit keine soziale Gerechtigkeit erreicht, aber es gibt wenigstens etwas Hoffnung zur Rettung des Planeten vor dem Klimawandel.

 

Die Ungleichheitsfrage bleibt dennoch zentral. Und hier muss man am ehesten befürchten, dass es bei Lippenbekenntnissen bleibt. Denn vom Umbau des Steuersystems in den vergangenen Jahrzehnten haben die Gutverdienenden und Vermögenden massiv profitiert. Und ob diese dann wirklich bereit sind, auf die eigenen Privilegien zu verzichten, ist fraglich. Markus Diem Meier weist im ‹Tages-Anzeiger› auf eine Studie der London School of Economics hin, die die Auswirkungen von Steuersenkungen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in 18 entwickelten Ländern untersucht hat. Fazit: Der einzige signifikante Effekt war eine Zunahme der Ungleichheit. Die Reichen sind reicher geworden. Ein Effekt auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zeigte sich hingegen nicht.   

 

Eine Gesellschaft und ihr Konsens wandeln sich selten über Nacht. Aber vielleicht dennoch langsam wieder zum Guten. Schön wärs.