Mit Annalena Baerbock stellen die deutschen Grünen zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Kanzlerkandidatin. Die Kürung der Kandidatin ging dermassen professionell und reibungslos über die Bühne, obwohl Mitpräsident Robert Habeck ebenfalls Interesse bekundete. Dies hatten viele der ehemaligen Sponti-Partei nicht zugetraut. Es bildete auch einen Kontrast zur CDU, die sich ungleich schwerer tat. Am Schluss setzte sich CDU-Chef Armin Laschet gegen den bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder im CDU-Vorstand durch. Dies war denn auch nicht unbedingt verwunderlich. Zwar kommt Söder gemäss Umfragen bei den WählerInnen besser an. Aber Laschet wurde eben erst zum Parteivorsitzenden gewählt. Hätte der Vorstand ihn bei der Kanzlerfrage zurückgewiesen, hätten sie sich fragen müssen, ob sie jetzt auch den Richtigen zum Parteichef gemacht haben.
Baerbocks Kandidatur ist nicht nur historisch, weil die Grünen zum ersten Mal eine Kanzlerkandidatur stellen, sie ist es auch, weil sie es tatsächlich werden könnte. Die Grünen sind schon eine Weile zweitstärkste Partei und in Umfragen liegt Baerbock vor Laschet und Olaf Scholz von der SPD. Journalisten und Politbeobachterinnen hatten teilweise Habeck präferiert, der eloquentere, charismatischere und vielleicht auch interessantere Part des Grünen Spitzenduos. Baerbock ist eher ein technokratischer Typ, zeigt Liebe und Wissen zum Detail. Zudem hat sie keine Exekutiverfahrung.
Baerbock selber versucht den Mangel an Exekutiverfahrung in eine Stärke umzumünzen: «Ja, ich war noch nie Kanzlerin, auch noch nie Ministerin. Ich trete an für Erneuerung. Für den Status quo stehen andere.» Baerbock kommt – wie Habeck auch – vom sogenannten Realo-Flügel und gibt sich Mühe, die Grünen weg vom Image einer Verbotspartei zu bringen. Sie spricht lieber von Angebot: «Ich möchte mit meiner Kandidatur ein Angebot für die ganze Gesellschaft machen.» Diese Angebote wiederholt sie auch im langen Interview auf Pro Sieben, gleich sieben Angebote macht sie. Veggie-Day, Autos ohne Verbrennungsmotor, Landwirtschaft ohne Massentierhaltung.
Die fehlende Erfahrung wird in den Medien als Risiko eingestuft. «Hätten herkömmliche Kriterien gegolten, wäre Habeck Kandidat geworden. Er hat als Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein Wahlen gewonnen, er hat die Grünen in eine Koalitionsregierung geführt und war sechs Jahre lang Minister und stellvertretender Ministerpräsident», schreibt Ralf Neukirch im ‹Spiegel›. Dies anzumerken sei nicht frauenfeindlich. Im Gegenteil: «Es ist in Wahrheit andersherum: Kein Mann wäre mit dem Erfahrungshorizont Baerbocks Kanzlerkandidat geworden.»
Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrew Yang will Bürgermeister von New York werden. Yang hatte sich vor allem als Verfechter eines Grundeinkommen einen Namen gemacht, er war ein Unternehmer in der Tech-Branche, leitete dann eine NGO. Politische Erfahrungen hat er eigentlich keine. In Umfragen liegt Yang im Moment sehr gut im Rennen. «Es gäbe niemals eine weibliche Andrew Yang», schreibt Michelle Goldberg in der ‹New York Times›. Keine Frau mit so einem dünnen Rucksack hätte je die Chance, Bürgermeisterin von New York zu werden, meint sie. Sie begründet dies mit einer Studie. Dort wurden identische Lebensläufe von Frauen und Männern vorgelegt. Es zeigte sich, dass Frauen und Männer aufgrund der bisherigen Leistungen gleich beurteilt wurden. Die Unterscheidung lag in der Einschätzung des Potenzials. Einem Mann, dem die Erfahrung für eine Führungsrolle fehlte, wurde diese eher zugetraut als einer Frau. Ist Baerbock also der weibliche Yang? Ist Goldbergs These falsch oder ist Deutschland halt weiter als die USA?
Baerbock ist kein Yang in dem Sinne, dass sich dieser als Visionär präsentiert, als einer, der inspiriert. Das deckt sich mit anderen Studien, wonach Menschen Männern mehr Kreativität zutrauen, mehr Ideenreichtum. Frauen sind vielleicht fleissig, sie sind aber selten Wunderkinder. Frauen sind vielleicht klug, aber gelten kaum je als brillant. So gesehen ist Baerbock eher klassisch. Sie gilt als fleissig, als eine, die sich in Dossiers kniet, während sich Habeck eher als Philosoph und Denker inszeniert.
Die fehlende Erfahrung ist also ein Risiko. Dennoch scheint mir die Wahl von Baerbock richtig. Nicht nur, weil die Grünen schon aus ihrer Geschichte und Tradition heraus einer Frau den Vortritt lassen mussten. Sondern weil Baerbock tatsächlich Erneuerung ausstrahlt. Armin Laschet ist 60 Jahre alt, Olaf Scholz ist 62 Jahre alt. Baerbock ist zwanzig Jahre jünger. Alter und Geschlecht sollten im Prinzip keine Rolle spielen, tun es aber am Schluss trotzdem, wenn man sich zwei ältere graue Herren mit einer doch deutlich jüngeren Frau visualisiert. Die Erneuerung ist damit gleich offenkundig, bei Habeck wäre es nicht so klar gewesen. Baerbock wirkt aber nicht wie eine Blenderin: Ihr Selbstvertrauen ist zwar intakt, aber ihr Auftritt wirkt freundlich, nüchtern und sachkundig. Tatsächlich wird sie auch von gewissen KommentatorInnen mit Merkel verglichen. So oder so: Es ist ziemlich klar, warum in Deutschland die Grünen die SPD überholt haben. Die Grünen haben die Erneuerung vollzogen, sie wirken frisch. Dagegen wirkt die SPD-Spitze mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans irgendwie verstaubt und bieder. Mit Scholz präsentiert die SPD einen Spitzenkandidaten mit Erfahrung und Bekanntheit und Potenzial in der Mitte. Nur wirklich gezündet hat die Kandidatur bis anhin nicht. Die SPD scheint immer noch nicht aus der Vergangenheitsbewältigung herauszukommen. Die Grünen agieren unbeschwert, obwohl sie an den Fehlern der rotgrünen Regierung unter Gerhard Schröder ja nicht unbeteiligt waren. Aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen ist eine gute Sache, nur muss man sie dann auch irgendwann überwinden. Die Wählerinnen und Wähler wollen eben durchaus auch das Potenzial und die Zukunft erblicken. Interessanterweise gibt es diese Art der Vergangenheitsbewältigung auch hierzulande, obwohl die SP gar nie einen dritten Weg verfolgt hatte.
Welche Rolle die Frauenfrage spielen wird, ist noch offen. Schliesslich hatte Deutschland nun 16 Jahre eine Kanzlerin. In der Schweiz zeigten die Wahlen in Neuenburg, dass die Frauenwahl noch lange nicht vorbei ist. Zum ersten Mal gibt es in einem kantonalen Parlament eine Frauenmehrheit von 58 Prozent. Das ist gut für die Frauen, aber bei den linken und grünen Parteien teilweise auch bitter für die Männer. Bei den Grünen waren 79 Prozent der Gewählten Frauen, bei der GLP 75 Prozent und bei der SP 71 Prozent. Ähnliches zeigte sich auch im Berner Stadtparlament. Ich habe parteiinterne Quoten immer auch mit dem Argument vertreten, es könne auch einmal den Männern helfen. Bald ist es wohl soweit.