Ende letzten Jahres wurde bekannt, dass die Zahl der Hospitalisierungen bei Jugendlichen wegen psychischer Erkrankungen massiv angestiegen ist. Besonders betroffen davon sind Mädchen und junge Frauen. Als Begründung für den massiven Anstieg wurde insbesondere Corona angeführt. Das entspricht auch dem internationalen Trend. So hat auch die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtet, dass Corona zu einem Anstieg von psychischen Erkrankungen geführt hat. Diese Erklärung lässt allerdings ausser Acht, dass der Anstieg von psychischen Erkrankungen schon vor der Pandemie begann.
Die Psychologin Jean Twenge und der Sozialpsychologe Jonathan Haidt vertreten die These, dass der Anstieg der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen vor allem eine Ursache hat: das Aufkommen des Smartphones. Internationale Daten zeigen einen Anstieg der psychischen Erkrankungen seit 2010 und insbesondere seit 2012. Und weil dieser Anstieg in vielen Ländern beinahe zeitgleich erfolgte, gehen sie davon aus, dass es eine Erklärung geben muss, die auch international Gültigkeit besitzt. Und diese Erklärung finden sie in der Verbreitung des Smartphones. Insbesondere die Nutzung von Sozialen Medien sei ausschlaggebend für die Verschlechterung der psychischen Gesundheit. Das erklärt auch, warum der Anstieg bei Mädchen weit stärker ausfällt, weil Mädchen eher Soziale Medien benutzen, währenddem Buben eher Games spielen. Letzteres finde oft gemeinsam statt, sodass die Vereinsamung weniger gross sei als bei der Benutzung Sozialer Medien. Der Unterschied ist auch, dass, wer ein Spiel spielt, eine Belohnung für ein aktives Verhalten wie das Meistern eines Levels oder das Erreichen einer Punktzahl erhält, bei Sozialen Medien hingegen gibt es die Belohnung von anderen. Denn Erfolg und Status in den Sozialen Medien misst sich an der Anzahl Likes, Followers oder Interaktionen. Damit können sie Verunsicherungen verstärken, die Jugendliche sowieso haben: Wie beliebt eine Person ist oder als wie attraktiv sie angesehen wird. Die Sozialen Medien vermitteln denn auch unrealistische Bilder von vermeintlich glamourösem Leben und perfekten Körpern. Und natürlich können Soziale Medien auch eingesetzt werden, um andere zu mobben. Smartphones hätten dazu geführt, dass Jugendliche weniger reale Zeit mit Freund:innen verbringen und sie hätten auch dazu geführt, dass sich der Schlaf von Jugendlichen verschlechtert habe. Die Pandemie hat dies alles natürlich noch akzentuiert.
Nun ist diese Erklärung nicht unbestritten. Zum einen sind Probleme selten so monokausal erklärbar. Und es gibt auch Studien, die diese Befunde differenzierter oder anders sehen. Zum Beispiel gäbe es auch einen zunehmenden Leistungsdruck und eine unsicherere Weltlage, die das Wohlbefinden von Jugendlichen beeinträchtigen können. Zum Zweiten sind die Klagen über neue Medien, die die Jugend und insbesondere die jungen Mädchen verderben, ja auch nicht besonders neu. So warnten im 18. Jahrhundert einige Gelehrte vor der verderblichen «Romanleserey». Johann Adam Bergk beklagte beispielswiese 1799 die «geschmack- und gedankenlose Lektüre». Deren Folgen: «Unsinnige Verschwendung, unüberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, grenzenloser Hang zum Luxus, Unterdrückung der Stimme des Gewissens, Lebensüberdruss und ein früher Tod.»
Twenge und Haidt bringen selber noch einen anderen Aspekt ins Spiel, der vielleicht für die USA treffender ist als für europäische Länder: Dass Erziehung viel sicherheitsorientierter ist als früher. Kinder und Jugendliche hätten weniger Gelegenheiten sich unbeaufsichtigt zu treffen, weniger Möglichkeiten, Blödsinn anzustellen, der aber dann helfen könnte, aus Dummheit klug zu werden. Während also versucht werde, im öffentlichen Raum Gefahren zu reduzieren, seien Kinder und Jugendliche im virtuellen Raum ziemlich unbeaufsichtigt.
Ich halte die Smartphone-These nicht für ganz unplausibel, aus dem simplen Grund, dass ich an mir selber beobachten kann, was das Smartphone und Soziale Medien für einen Einfluss auf mein eigenes Verhalten haben. Ich fühle mich zwar weder suizidal noch depressiv, aber dennoch habe ich auch zuweilen das Gefühl, dass ich mein Leben auch noch ein bisschen auf- und anregender verbringen könnte, als mit dem halbgelangweilten Scrollen durch den neusten Twitter-Feed. Vielleicht wäre es ja auch netter, sich mal zur Abwechslung wirklich zu langweilen. Es auszuhalten, dass mal ein paar Minuten nichts passiert. Und tatsächlich sind es nicht nur die Kinder, die ein Problem mit den Smartphones und Social Media haben: Es sind denn auch die Eltern. Und natürlich wirkt es dann auch ein wenig heuchlerisch, wenn man den Kindern den Medienkonsum beschränkt, wenn man selber kaum ohne Bildschirm sein kann.
Nun ist es selbstverständlich kaum realistisch und wünschbar, Kindern und Jugendlichen Smartphones oder Social Media grundsätzlich zu verbieten. Aber wenn es zumindestens Anhaltspunkte gibt, dass der uneingeschränkte Konsum ernsthafte Risiken mit sich bringt, so wäre es vielleicht angebracht, hier mal genauer hinzusehen. Die ‹Facebook›-Whistleblower Frances Haugen hat zudem auf ‹Facebook›-interne Forschung hingewiesen, die zum Schluss gekommen ist, dass der ‹Instagram›-Algorithmus für Mädchen mit psychischen Problemen eine Gefahr darstellen könne. Zum Beispiel schlage der Algorithmus den Nutzer:innen immer extremere Inhalte vor: Wer sich beispielsweise für Diäten interessiere, lande zum Schluss bei Pro-Anorexia-Profilen, die Magersucht propagieren. So hätten laut diesen internen Zahlen 13,5 Prozent der Mädchen gesagt, dass ‹Instagram› Suizidgedanken verschlimmere und 17 Prozent waren der Ansicht, dass ‹Instagram› zu Essstörungen führe. Jugendliche stärker zu schützen und gleichzeitig Erwachsene nicht unnötig zu bevormunden oder einzuschränken ist in der virtuellen Welt nicht ganz trivial. Das hat auch die Debatte rund um das Jugendschutzgesetz für Plattformen und Abrufdienste gezeigt. Es aber alleinig auf die teilweise überforderten Eltern abzuschieben, kann auch keine Lösung sein. Es ist wichtig und richtig, jetzt Therapieplätze auszubauen, wie dies auch der Kanton Zürich tut (P.S. berichtete) und auch im Gemeinderat gefordert wird. Aber es ist sicher auch zwingend, dafür zu sorgen, dass weniger Kinder und Jugendliche überhaupt in die Situation kommen, diese zu benötigen.