Aus der Geschichte nicht lernen

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Die ‹Financial Times› schrieb 1933 nur Wohlwollendes über Benito Mussolini. Die Züge würden pünktlich verkehren, die Investitionen brummten, Arbeitskämpfe gäbe es keine mehr. Weiter wurde geschwärmt von der «energischen Architektur», mit der das Land unter Mussolini umgebaut wurde.. Ausgegraben hat diese Episode der Journalist Edward Luce, der weiter schreibt, dass es eine Illusion sei zu glauben, die Wirtschaft könne ein Bollwerk gegen die Bedrohung der Demokratie durch Möchtegerne-Autokraten wie Trump sein. Wirtschaftsführer:innen hätten sich im Nachgang des Sturm auf das Kapitol vom 6. Januar 2021 von Trump abgewendet. Schnee von gestern, wie er in Davos  habe feststellen können. Die Wirtschaftseliten haben sich mit einer möglichen neuen Präsidentschaft Trumps arrangiert. Schliesslich hat dieser in seiner Amtszeit auch für eine grosse Steuersenkung gesorgt, was offenbar wichtiger ist als alles andere. Zudem hätten viele das Gefühl, die Gefahren einer neuen Trump-Präsidentschaft seien nicht so gross, wie oft heraufbeschworen werde. Schliesslich habe das Land auch die erste Amtszeit überlebt. Der Unterschied, den sie allerdings gerne ausblenden ist, dass Trump und seine Entourage jetzt weitaus besser vorbereitet sind, als sie das 2016 waren. Luce verweist denn auch auf Hegel, der gesagt habe, dass die Geschichte uns vor allem lernt, dass wir nicht aus der Geschichte lernen. 

In einer anderen Zeit, den vielleicht im Rückblick naiven 1990er-Jahren, war der Glaube verbreitet, dass sich die Gesellschaft und die Welt – auch dank Marktwirtschaft und globalem Handel – immer weiter in Richtung Demokratie bewegt. «Wandel durch Handel» hiess die Devise und dahinter stand auch der Glaube, dass sich Kapitalismus und Demokratie gegenseitig bedingen. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt nicht nur die jüngere Geschichte. Kapitalismus braucht nicht unbedingt Demokratie, er kann – wie es auch China zeigt – sogar von Kommunisten gelebt werden. Der Kapitalismus – so Luce weiter – brauche allerdings den Rechtsstaat, der für Transparenz und Verbindlichkeit sorgt. Es seien die Kapitalisten, die diesen nicht wollen. Der Kapitalist aber strebt ein Monopol an und will keine Schranken, die ihn in seinen Ambitionen behindern. Die US-Wahl sei denn auch eine Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und den Kapitalisten. Und klar sei, dass Trump die letzteren bevorzuge. 

Die Wirtschaftseliten sind kein Bollwerk gegen antidemokratische Tendenzen, die Journalist:innen allerdings auch nicht. Mindestens erhält man diesen Eindruck bei der Lektüre des NZZ-Feuilletons und des «anderen Blicks», dem deutschlandfokussierten Teils der NZZ. Seit Tagen gibt es hier nur ein Thema: Nämlich, dass die deutsche Zivilgesellschaft, die im Moment zu Zehntausenden gegen die AfD protestiert, komplett übertreibt. Die «vielbeschworene «wehrhafte Demokratie», schreibt Feuilleton-Chef Benedict Neff, ist «in Wahrheit eine hyperventilierende Demokratie». Und: «Wie die wachsende Popularität der AfD vor allem im Osten Deutschlands zeigt, verliert der Warngestus der etablierten Parteien aber zunehmend seine Wirkung. Die Nazi-Keule funktioniert nicht mehr.» Auslöser dieser Proteste war ein vom Recherche-Netzwerk «Correctiv» publizierter Artikel über ein Geheimtreffen von Vertreter:innen der AfD, der identitären Rechten sowie von der AfD nahestenden Wirtschaftsvertretern, in denen ein Plan zur «Remigration» diskutiert wurde. Dabei ging es darum, wie nichtgenehme Migrant:innen aus Deutschland ausgeschafft werden sollen. Neben Asylbewerber:innen und Ausländer:innen auch deutsche Staatsbürger:innen, die «nicht assimiliert» seien. Das erschüttert die NZZ weniger, im Gegensatz zu den Demonstrierenden: «Mass und Mitte kennt Deutschland in diesen Tagen nicht», schreibt Eric Gujer. Es sei wie bei der «Willkommenskultur» 2015, so Gujer weiter. In ihrer Naivität hätten die Deutschen die durch die Migration ausgelösten Probleme ignoriert. «Gelernt haben die Deutschen nichts aus ihrer Schwärmerei. Für sie ist keine Dummheit zu gross, als dass sich diese nicht ein zweites Mal begehen liesse, sofern sie sich nur moralisch verbrämen lässt.» 

Im Übrigen sei die Geschichte dieses Masterplans total übertrieben, schreibt NZZ-Deutschland-Chef Marc Joao Serrao in einem Kommentar, der mit «Remigration, ja aber richtig» betitelt ist. «Dass führende AfD-Politiker und ihre neurechten Vordenker von einer massenhaften Zwangsaussiedlung bestimmter Migrantengruppen träumen, ist ein alter Hut.» Ach so. Und natürlich ist die AfD zweifelhaft: «Nicht alle, aber viele ihrer führenden Vertreter verhöhnen die liberale Demokratie und deren Institutionen.» Protest oder gar Verbot sind aber ganz schlechte Reaktionen, denn: «Die rechten Remigrationspläne sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind die Konsequenz einer inzwischen rund ein Jahrzehnt anhaltenden unkontrollierten Masseneinwanderung, die von den etablierten Parteien entweder schöngeredet oder für schlicht nicht regulierbar erklärt wurden.» Das Rezept gegen die Rechtsextremen ist also nicht, sie zu bekämpfen, sondern ihre Politik umzusetzen. Eben Remigration, aber richtig: «Wehrhaft werden Deutschlands liberale Demokraten erst, wenn sie Ausschaffungen nicht mehr nur, wie Olaf Scholz, «im grossen Stil» ankündigen, sondern durchsetzen.» 

Es gibt in den USA im Moment eine grössere Diskussion darüber, warum die Mehrheit der Menschen die Wirtschaftslage als schlecht empfindet, obwohl die objektiven Zahlen wie Wachstum und Arbeitslosenquote gut seien. Dieses Phänomen wird teilweise als «vibecession» bezeichnet, als eine gefühlte Rezession sozusagen. Zumal die Leute selber sagen, dass sie ihre persönliche Situation nicht so schlecht einschätzen. Dasselbe Phänomen könnte man auch bei der Migration diagnostizieren. Es ist eher ein «Gefühlsmigrationsproblem» als ein reales, zumal in den Bundesländern, in denen die AfD am meisten zulegt, die Ausländer:innenanteile sehr gering sind. In Sachsen beispielsweise bei 5,3 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 4,8 Prozent. Das ist wie Republik-Journalist Elia Blülle auf X postete, weniger als im Muotathal.  

Nun gibt es natürlich trotz guten Wirtschaftszahlen in den USA grosse soziale Probleme. Und tatsächlich bringen Migration und Integration Herausforderungen mit sich. Nur sind die hier propagierten «Lösungen» meist höchstens Scheinlösungen. Die Ausschaffung von abgewiesenen Asylsuchenden wird in Deutschland oder in der Schweiz nicht dann nicht vollzogen, weil man es nicht will, sondern weil man nicht kann. Zum Beispiel weil das Abschiebeland diese nicht aufnehmen will. 

Natürlich kann man der Meinung sein, dass eine Ächtung der AfD kontraproduktiv sei. Oder sich Rechtspopulist:innen im Amt von selber entzaubern. Aber nur, wenn sie es ungeschickt anstellen. Die Demokratie wird nicht per Paukenschlag abgeschafft, sondern schleichend, wie es Viktor Orban, Vorbild auch unserer Rechtspopulisten zeigt. Die Demokratie wird dann verteidigt, wenn sich eine breite politische Allianz für sie einsetzt. Dazu gehört auch eine funktionierende Zivilgesellschaft. Es scheint eher, als ob Teile der liberalen NZZ eher den Boden bereiten wollen für eine Salonfähigkeitsmachung der AfD. Auch das wäre nicht neu in der Geschichte.