Drei ehemalige Bundesrät:innen meldeten sich mit einem Brief bei der Bevölkerung. Adolf Ogi, Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann rufen dazu auf, Nein zu stimmen bei der Initiative zur 13. AHV-Rente. Alt-Bundesrat Pascal Couchepin doppelt in einem Interview mit dem ‹Tages-Anzeiger› nach. Die Stimmbevölkerung müsse wieder lernen, das Eigeninteresse hintenanzustellen. Und es sei «Ideologie», von einer wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm zu sprechen: «Der Gini-Index (Index zur Einkommens- und Vermögensverteilung) bestätigt nicht, dass die Kluft zwischen Reich und Arm wächst.» Tatsächlich ist der Gini-Index für die Schweiz in den letzten zwanzig Jahren leicht gestiegen. Die Ungleichverteilung ist aber vor allem beim Vermögen sehr gross und nicht bei den Einkommen. Man kann sich so vorstellen, was die Kampagnenleiter:innen der Economiesuisse sich bei dieser Aktion gedacht haben. Der Bundesrat hat eine hohe Glaubwürdigkeit: Ogi, Leuthard und Johann Schneider-Ammann waren beliebte Bundesräte. Und dann braucht es ja noch jemanden für die Romandie. Indes scheint sich die Aktion als Eigengoal zu erweisen, als «Rohrkrepierer», wie Arthur Rutishauser in der ‹Sonntagszeitung› schreibt. Denn vielleicht sind Leute mit einem Ruhegehalt von rund 227 000 Franken pro Jahr, denen die volle Teuerung auch ausgeglichen wird, doch nicht ganz die richtigen Absender für die Botschaft, man müsse doch auf das Eigeninteresse verzichten und aus Verantwortung Nein stimmen. Um noch einmal Arthur Rutishauser zu zitieren: «Man hat heute das Gefühl, die Damen und Herren lebten in einer Blase.»
Gerne wird auch das Giesskannenprinzip der AHV kritisiert und für bedarfsgerechte Lösungen plädiert. Warum dies auch problematisch ist, schreibt Jeannette Büsser auf Seite 18. Aber auch Fabian Renz kritisiert dieses Argument im ‹Tages-Anzeiger›. Tatsächlich seien Sergio Ermotti und Christoph Blocher nicht auf die 13. AHV-Rente angewiesen. Aber sie bräuchten im Grundsatz auch gar keine AHV. Die AHV ist aber keine Sozialhilfe, sondern eine Versicherung, in die jede:r einzahlt. Und weil die AHV auch stark umverteilt, zahlen Ermotti und Blocher ein Vielfaches davon ein, als sie am Schluss als Rente erhalten. «Wer das unsinnig findet, stellt die AHV als Gesamtkonstrukt infrage», meint Fabian Renz. «Im harten Kern des wirtschaftsliberalen Milieus, das jede Form von Umverteilung verabscheut, sähe man die AHV noch so gern durch «eigenverantwortliche» Formen der Altersvorsorge ersetzt: Alle leben ausschliesslich von dem, was sie für sich selber angespart haben.»
Eine pauschale Abqualifikation des Giesskannenprinzips funktioniert also auch nicht. Das Argument, dass die 13. AHV-Rente zu viel kostet, und es bessere Mittel gäbe, die Altersarmut zu bekämpfen, ist unter dem Strich wohl das effektivste Gegenargument. Die beste Abstimmungskämpferin gegen die Initiative ist im Moment ironischerweise Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, die hier wohl eher contre coeur die Haltung des Bundesrats vertritt. Dies aber durchaus geschickt und wohl auch mehr, als sie es eigentlich tun müsste. So sagt sie in einem Interview mit CH Media: «Wir können mit Ergänzungsleistungen viel gezielter jenen Menschen helfen, die wenig Mittel haben. Oder wie es eine Mehrheit des Parlaments will: Die tiefen Renten erhöhen. Das würde jenen zehn Prozent der Rentenbeziehenden helfen, die es nötig haben. Der Unterschied ist entscheidend: Nur mit gezielten Massnahmen können wir verhindern, dass wir die AHV als Ganzes schwächen.» Es sei zudem ungerecht, dass jene, die heute eine tiefe AHV-Rente haben, eine geringere 13. AHV-Rente erhalten als jene mit der Maximalrente.
Ob die Mehrheit des Parlaments aber tatsächlich die tiefen Renten erhöhen will, ist allerdings ziemlich fraglich. Denn die Motion für eine gezielte Erhöhung der tiefen Renten, die GLP-Nationalrätin Melanie Mettler eingebracht hat und der eine Mehrheit des Nationalrats zugestimmt hat, ist keine neue Idee, sondern sie entspricht der Idee für einen Gegenvorschlag, den die Mehrheit der Kommission allerdings selber abgelehnt hat. Die Verwaltung habe, so sagt Mehrheitssprecher Peter Hegglin (Die Mitte) im Ständerat, den Auftrag erhalten, Modelle zu entwickeln, wie die tiefen Renten verbessert werden könnten. Aber das sei nicht so einfach. «Eine Anhebung der Mindestrente sieht zwar schön aus», führt Peter Hegglin aus, «es ist aber kaum produktiv, weil nur sehr wenige Personen bei voller Beitragsdauer in dieser Kategorie sind. Wenn Personen generell eine relativ tiefe AHV-Rente haben, dann liegt das in der Regel nicht daran, dass sie ihr Leben lang durchschnittlich tiefe Einkommen hatten. Vielmehr erwarben sie aus anderen Gründen nicht viel Einkommen, z. B. weil sie keine vollständige Beitragsdauer hatten.» Gründe für diese nicht vollständige Beitragsdauer sind beispielsweise Auslandsaufenthalte oder Haft. Zudem sind aufgrund der Erziehungs- und Betreuungsgutschriften viele Frauen und Ehepaare nicht im Minimum, selbst Alleinerziehende nicht, und dies, obwohl sie wenig verdienten. Ihr Problem ist die tiefe Gesamtrente, weil sie keine oder nur eine geringe Rente aus der zweiten Säule erhalten.
Ständerätin Maya Graf (Grüne) bedauerte ausdrücklich, dass die Kommission keinen Gegenvorschlag verabschiedet hat. Peter Hegglin antwortet wie folgt: «Ich habe in meinem einleitenden Votum ausgeführt, dass der Kommission bei der Beratung dieses Geschäfts verschiedene Unterlagen zur Verfügung standen. (…) Die Verwaltung hatte aufgrund dieses Auftrags ja gerechnet und Modelle entwickelt, wie man die AHV-Rente anders ausgestalten könnte. Ich habe beispielsweise das Mittel einer Anpassung der Rentenformel erwähnt, das war eine Variante. Eine weitere Variante zielte darauf ab, zu versuchen, die tieferen AHV-Renten zu verbessern. Die Lösungen, die dabei herauskamen, waren in sich nicht stringent und nicht förderlich. Deshalb haben wir diese Modelle nicht übernommen.» Sprich: Der Vorschlag wurde geprüft und für nicht praktikabel gehalten.
Natürlich gäbe es auch andere Vorschläge, die man prüfen könnte, auch beispielsweise um Hürden abzubauen, die Ergänzungsleistungen zu beanspruchen. Nur passiert in den letzten Jahren bei den bedarfsgerechten Leistungen, wie dies Jeannette Büsser auch schön ausgeführt hat, das genaue Gegenteil. (Bürokratische) Hürden werden erhöht und die Leistungen werden gekürzt. Hier liegt der Schluss nahe, dass die plötzliche Begeisterung für die Motion Mettler und den Kampf gegen Altersarmut eher Abstimmungstaktik denn realer Willen ist. Mindestens bei der Mehrheit des Parlaments. Man kann also die Initiative für eine 13. AHV-Rente durchaus ablehnen, aber man sollte nicht die Illusion pflegen, dass das Parlament dann eine bessere Lösung zimmert.