Die Disziplinierung der rot-grünen Städte

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Dass Floskeln aus Sonntagsreden in der realen Politik nicht ganz so ernstgemeint sind, ist nichts neues. Zum Beispiel reden Bürgerliche gerne da­rüber, wie wichtig gesunde Finanzen sind und wie man ganz sicher kein Geld hat für neue Begehrlichkeiten. Es sei denn natürlich, dass es sich um ihre eigenen Begehren handelt, wie beispielsweise mehr Ausgaben für die Armee oder Steuersenkungen für Vermögende. Dann spielen natürlich weder heraufbeschworene Pleitegeier, heilige Schuldenbremsen oder sonstige Restriktionen eine Rolle. Das gleiche gilt auch für die Gemeindeautonomie und den Föderalismus. Das hält man auch von bürgerlicher Seite gerne hoch, es sei denn, eine Gemeinde oder ein Kanton macht etwas Schlimmes, sprich Linkes.

Einige Beispiele dazu aus aktuellem Anlass. Die Kantone Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Basel-Stadt haben kantonale Mindestlöhne eingeführt. In den Städten Zürich und Winterthur hat die Stimmbevölkerung der Einführung eines kommunalen Mindestlohns zugestimmt. Mitte-Ständerat Erich Ettlin will das nicht akzeptieren und hat eine Motion formuliert, die ebendiese kantonalen Mindestlöhne aushebeln will. Der Motion wurde von beiden Räten zugestimmt. Dies obwohl auch der Bundesrat darauf hinwies, dass die kantonalen Mindestlöhne demokratisch legitimiert seien und auch gerichtlich als verfassungskonform bestätigt wurden. 

Im Kanton Zürich ist es eine Art Volkssport der kantonalen Politik, unliebsame Entscheide der Stadt Zürich politisch zu übersteuern. Beispiele gibt es viele. So beschloss der Zürcher Gemeinderat einst, dass man in den Polizeimeldungen auf die Nennung der Nationalität verzichtet, sofern diese nicht relevant ist für die Tat. Diese Forderung setzte der damalige Polizeivorstand Richard Wolff um. Bis eine kantonale Initiative der SVP gestartet wurde, die dies der Stadt wieder explizit verbietet. Die Initiative wurde zwar abgelehnt, der Gegenvorschlag des Kantonsrats und damit die Übersteuerung der städtischen Praxis wurde angenommen. Die Stadtzürcher Stimmbevölkerung sagte zu beidem Nein. 

Überhaupt ist die kantonale Politik nicht so glücklich mit der Stadtpolizei und insbesondere nicht mit deren Vorsteher:innen. Aktuelles Anschauungsbeispiel: Die «Anti-Chaoten-Initiative» der SVP und der dazugehörende Gegenvorschlag des Kantonsrats. Die Initiative will, dass Polizeieinsätze im Rahmen von Demonstrationen, Kundgebungen und Hausbesetzungen den Veranstalter:innen und Teilnehmer:innen belastet werden können. Das wäre auch jetzt schon möglich, aber – so klagen die Initiant:innen – die Stadt macht es einfach nicht. Zentral bei Initiative und Gegenvorschlag ist zudem die Einführung einer Bewilligungspflicht für alle Demonstrationen und Kundgebungen. Die Stadt Zürich will hier eigentlich das Gegenteil. Luca Maggi (Grüne) hatte gefordert, dass die Bewilligungspflicht für Demon­strationen durch eine unbürokratische Meldepflicht ersetzt wird. Der Stadtrat will dieses Begehren insofern erfüllen, dass diese Meldepflicht für kleinere Demonstrationen und Kundgebungen unter hundert Personen eingeführt wird. Mit Annahme der Initiative oder des Gegenvorschlags wäre diese Praxis Geschichte. Interessanterweise hat sich selbst der Regierungsrat in seinem ursprünglichen Gegenvorschlag gegen eine allgemeine Bewilligungspflicht ausgesprochen. Die Begründung: Sie greife «ohne Not in die Gemeindeautonomie» ein. 

Nächstes Beispiel: Aus Gründen des Lärmschutzes und zur Steigerung der Lebensqualität setzen viele Städte auf Tempo 30. Das stört natürlich jene, die da nicht leben, sondern nur (hinein)fahren wollen. FDP-Nationalrat Peter Schilliger will deshalb auf nationaler Ebene vorschreiben, dass auf Hauptachsen zwingend Tempo 50 gelten solle. Der Vorstoss wurde im Nationalrat überwiesen, auch im Ständerat hat er gute Chancen, da die vorbereitende Kommission ihm grossmehrheitlich zugestimmt hat. Dagegen wehren sich Städte- und Gemeindeverband. «Städte und Gemeinden kennen die lokalen Gegebenheiten in ihrem Gebiet und die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung am besten», sagt Präsident Anders Stokholm, Stadtpräsident von Frauenfeld gegenüber dem ‹Tages-Anzeiger›. Es gibt auch rechtliche Bedenken. Denn das Bundesgericht hatte 2016 gestützt auf das Umweltschutzgesetz entschieden, dass Temporeduktionen eine effektive Lärmschutzmassnahme seien und daher auch auf Hauptstrassen zum Einsatz kommen sollen. Mit Schillingers Motion würden also nicht nur die Gemeinden sondern auch das Bundesgericht übersteuert. 

Es kommt ein wenig der Verdacht auf, dass es weniger um Inhalte geht, sondern vor allem um die Disziplinierung der rot-grünen Städte. Und dieser Wunsch ist auch bei Medienschaffenden verbreitet. Vor jeden städtischen Wahlen wird die Dominanz von Rot-Grün im Stadtrat beklagt. «Ein roter Filz hat sich ausgebreitet», klagt Daniel Fritzsche in der NZZ. «Biedere Verwalter statt Gestalter», meint Peter Bluntschi in ‹Watson›. Und Politgeograf Michael Hermann diagnostiziert in der NZZ «Ermüdungserscheinungen». 

Dieses Jahr konzentriert sich die Hoffnung auf die Stadt Bern. Mit einer grossen Listenverbindung aller bürgerlichen Parteien inklusive GLP und EVP soll endlich der rot-grünen Dominanz der Garaus gemacht werden. Dass sich die GLP in ein gemeinsames Bündnis mit der SVP begibt, sorgte GLP-intern für Diskussionen, wurde aber grossmehrheitlich abgesegnet. Der Zweck heiligt die Mittel, auch wenn dieses Wahlbündnis inhaltlich keinen gemeinsamen Nenner hat, ausser dass man Rot-Grün einen Sitz abjagen will. Dies wird allerdings nicht kritisiert, sondern natürlich die rot-grüne Mehrheit. «Ja, dass die Bevölkerung von links bis rechts die Lebensqualität rühmt, ist wesentlich RGM (Rot-Grün-Mitte) zu verdanken. Das Bündnis hat seit der Machtübernahme viel für die Attraktivität Berns für breite Bevölkerungsschichten geleistet. Längst ist RGM aber nicht mehr viel mehr als eine leere Hülle, die mittlerweile nur der Sicherung des Machterhalts dient», schreibt Christoph Hämmann im ‹Bund›. 

Sprich: Sie machen es zwar gut, aber dreissig Jahre sind jetzt genug. Das gilt zwar für die Städte, aber nie für Kantone oder den Bund, selbst wenn es hier seit 1848 eine bürgerliche Mehrheit gibt. Nur ist das halt die Norm. Eine Abweichung davon das Ärgernis. Ironischerweise ist das die beste Wahlwerbung für die rot-grünen Stadtregierungen, falls man ihnen denn tatsächlich mal Verwaltertum oder Ermüdungserscheinung vorwerfen möchte. Denn wenn man den Bürgerlichen aber zuhört, kommt man tatsächlich zum Schluss, man habe etwas richtig gemacht. Oder um noch einmal Daniel Fritzsche zu zitieren: «Die Gemeindeordnung, die ‹Zürcher Verfassung›, gleicht dem Parteiprogramm von Rot-Grün. Wie ein roter Faden ziehen sich die Visionen und Utopien seitenlang durch das Büchlein: aktive Wohnbauförderung, Ausbau des öffentlichen Verkehrs, 2000-Watt-Gesellschaft, umfassende Tagesstrukturen an den Schulen.»