Im Zuge der Abstimmung über die 13. AHV-Rente wird von den Gegner:innen ein Argument vorgebracht, das durchaus richtig ist. Nämlich, dass Rentner:innen nicht überproportional von Armut betroffen sind, sondern Kinder, Familien und Alleinerziehende (die dann natürlich auch im Alter überproportional von Armut betroffen sind). So sagte beispielsweise Nationalrat Andri Silberschmidt (FDP) am ‹Tages-Anzeiger›-Podium zur 13. AHV-Rente: «Kinder und Alleinerziehende haben doppelt so viele finanzielle Probleme wie die Seniorinnen und Senioren.»
Laut Caritas sind 745’ 000 Menschen in der Schweiz von Armut betroffen, darunter überdurchschnittlich viele Alleinerziehende. 157 ’000 davon sind sogenannte Working Poors, sie sind also trotz Vollzeitarbeitsstelle arm. Und darunter sind 134’ 000 Kinder. Wenn man die Menschen dazuzählt, die nur knapp oberhalb der Armutsgrenze sind, sind es 1,25 Millionen Menschen. Es ist auch bekannt, dass gerade Kinder besonders unter Armut leiden und ein grosses Risiko besteht, dass Armut weitervererbt wird. Ein Bericht des Unicef-Forschungsbüros Innocenti hat einen Vergleich der Kinderarmut in OECD- und EU-Ländern vorgenommen. Diese kommt zum Schluss, dass die Schweiz – obwohl sie zu den reichsten Ländern dieser Gruppe gehört – eine relativ hohe Kinderarmut aufweist. In den letzten zehn Jahren sei zudem der Anteil der Kinderarmut in der Schweiz um zehn Prozent angestiegen. Ebenso zeigt diese Studie auf, dass das Armutsrisiko von Kindern, die in Einelternhaushalten aufwachsen, drei Mal so hoch ist wie bei anderen Kindern.
Wir haben hier also tatsächlich ein Problem. Und dafür gäbe es auch Lösungen. Im Jahr 2000 – also vor über zwanzig Jahren – reichten die beiden damaligen Nationalrätinnen Lucrezia Meier-Schatz (CVP) und Jacqueline Fehr (SP) zwei parlamentarische Initiativen ein, die die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien gefordert hatten. Damit sollen analog zu den Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV armutsbetroffene Familien gezielt unterstützt werden. Diverse Studien und viele Fachleute sind der Ansicht, dass Ergänzungsleistungen für Familien ein wirksames Instrument zur Armutsbekämpfung sind. Eine Vorreiterrolle bei dieser Frage nahm der Kanton Tessin ein, der als erster Ergänzungsleistungen für Familien eingeführt hat. Der Nationalrat stimmte beiden Initiativen zu und beauftragte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, einen Vorschlag auszuarbeiten. Rund zehn Jahre später wurden die beiden Vorstösse unerledigt abgeschrieben. Die Begründung: Das sei Aufgabe der Kantone. Heute, mehr als zehn Jahre später, gibt es diese Familienergänzungsleistungen in vier Kantonen: Neben dem Kanton Tessin gibt es sie auch in der Waadt, im Kanton Genf und im Kanton Solothurn. Das heisst auch: 22 Kantone haben keine Ergänzungsleistungen für Familien. Allerdings gibt es in verschiedenen Kantonen Anläufe, diese einzuführen. So auch im Kanton Zürich. 2006 wurde über die Initiative «Chancen für Kinder» abgestimmt und mit 67 Prozent der Stimmen abgelehnt. Damit war das Thema eine Weile erledigt. 2018 nahmen die Kantonsrät:innen Birgit Tognella-Geertsen (SP), Karin Fehr Thoma (Grüne) und Marcel Lenggenhager (BDP) einen neuen Anlauf mit einer parlamentarische Initiative, die die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien fordert. Sie wurde mit 72 Stimmen (von SP, Grünen, AL, EVP, BDP und CVP) vorläufig unterstützt und ist immer noch in der Kommission hängig. Keine Unterstützung bekam die Forderung von SVP, FDP und GLP. Nun sind es just diese Parteien – mindestens die letzteren beiden – die im aktuellen Abstimmungskampf das Giesskannenprinzip bei der 13. AHV-Rente kritisieren und meinen, dass es doch viel sinnvoller wäre, eine bedarfsgerechte Unterstützung auszurichten.
Die SP Schweiz hat am vergangenen Samstag einen Parteitag durchgeführt, bei dem die Bekämpfung der Armut ein Schwerpunktthema war. Dabei forderte die SP in einem Positionspapier, dass bis 2030 die Armut in der Schweiz zu beenden sei. Co-Präsidentin Mattea Meyer wird dabei in der Medienmitteilung zitiert, dass Armut kein Naturgesetz sei, sondern eine Folge von politischen Entscheidungen: «Kantone kürzen bei der Prämienentlastung, Bürgerliche weigern sich, den Renditedeckel bei Mietpreisen durchzusetzen. Mindestlöhne werden verhindert. Mit dieser respektlosen Politik muss Schluss sein. Armutsbetroffene haben es wie alle anderen Menschen verdient, ein würdevolles Leben zu führen.» Um die Armut zu bekämpfen, fordert die SP neben den erwähnten Ergänzungsleistungen für Familien auch einen Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten und diverse Massnahmen, um die Bildung zu stärken. Das sind alles richtige, aber auch wenn von den Delegierten noch etwas Juso-Rhetorik eingebracht wurde, keine revolutionären Forderungen. Das sehen natürlich nicht alle so. So postete Alt-Ständerat Ruedi Noser auf X/Twitter: «In der erfolgreichen Schweiz, die verglichen mit dem Rest von Europa praktisch keine Probleme hat, wird die SP immer linker und weltfremder. Die SP will die Armut in der Schweiz bis 2030 beenden.» Nun mag das Ziel, die Armut bis 2030 zu beenden in der Tat etwas ehrgeizig sein. Nur scheint mir, dass hier nicht die Ambition, sondern das Anliegen an und für sich infrage gestellt wird.
Von rechter Seite wird uns Linken immer wieder unterstellt, wir würden eigentlich wollen, dass es allen Leuten gleich schlecht geht, weil es erst dann Gerechtigkeit gäbe. Dies in der Regel untermalt mit Anmerkungen zum real existierenden Sozialismus, unbehelligt davon, dass die Mauer 1989 gefallen ist. Nun ist das ziemlich falsch, denn Linke möchten ein gutes Leben für alle. Und man könnte jetzt darüber streiten, ob die Rezepte dafür wirksam sind. Aber dazu müsste man erst eine reale politische Auseinandersetzung wollen. Ich habe ja den Eindruck, die Argumentation, es sei ungerecht, wenn man den einen hilft, wenn es anderen auch noch schlecht gehe und es darum besser sei, man mache gar nichts, eher eine rhetorische Finte von rechts ist. Die Armen gegeneinander auszuspielen, statt sich ernsthaft zu bemühen, diese wenigstens zu verringern. Ich kann mich da natürlich auch irren und lasse mich sehr gerne eines Besseren belehren. So würde es mich freuen, wenn – ungeachtet des Abstimmungsresultats – Gegner:innen der 13. AHV-Rente wie beispielsweise Andri Silberschmidt mithelfen würden, gezielt Kinder- und Familienarmut zu bekämpfen. Die Lösungen wären vorhanden. Das Geld auch.