Die Sensation ist geglückt. Am Sonntag sagten 58,2 Prozent der Stimmberechtigten Ja zur Initiative für eine 13. AHV-Rente. Auch das Ständemehr war kein Problem und wurde mit 15 zu 8 geknackt. Nein sagte vor allem die Zentralschweiz und die Ostschweiz, aber auch hier mit gewissen Unterschieden: So sagte Appenzell Innerrhoden klar Nein mit 68,5 Prozent, während es in St. Gallen mit 51,3 Prozent Nein wesentlich knapper war. Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen wurde klar abgelehnt mit 74,7 Prozent. Sie wurde auch von allen Kantonen und allen Gemeinden deutlich abgelehnt. Am meisten Sympathien gab es dafür noch in den Kantonen Zug und Zürich, allerdings sagten auch dort nur knapp 30 Prozent Ja (30,5 im Kanton Zürich und 30,1 im Kanton Zug).
Vor einem Jahr noch hätte vermutlich keiner an diesen Erfolg geglaubt, wohl auch nicht die Initiant:innen selbst. So erreichte eine ähnlich gelagerte Initiative, die AHVplus-Initiative, im Jahr 2016 nur 43,1 Prozent Ja-Stimmen. Die grosse Reform der Altersvorsorge, die AV2020, wurde abgelehnt, unter anderem weil sie eine Erhöhung der AHV-Renten vorgesehen hat. Warum hatten Gewerkschaften und Linke dieses Mal Erfolg? Es gab eine Reihe von Faktoren, die man ins Feld führen kann, die sicher einen Teil, aber wohl nicht alles erklären. So ist die Kampagnenfähigkeit des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds sicher gewachsen, währenddessen die Economiesuisse zwar über viel Geld, aber über wenig gutes Campaigning verfügt. Das wurde zudem begünstigt durch den Zeitpunkt. Die Gegner:innen der Initiative hatten wenig Zeit für ihre Kampagne, währenddem die Befürworter:innen bereits im Wahlkampf die Kaufkraftsfrage in den Mittelpunkt gestellt haben. Aus Politikmarketing-Sicht ist die Initiative auch deshalb gelungen, weil sie ganz einfach verständlich war. Das Konzept einer 13. AHV-Rente versteht jede:r auf Anhieb, eine abstrakte Rentenerhöhung muss mehr erklärt werden. Sicher in die Kategorie Eigengoal kann das Engagement der Alt-Bundesrät:innen gezählt werden, die mit ihrer guten Rentensituation wohl keine guten Botschafter:innen für einen Verzichtsaufruf waren.
Wesentlich war wohl auch die hohe Stimmbeteiligung. So haben sich an dieser Abstimmung auch viele beteiligt, die keine regelmässigen Urnengänger:innen sind. Die Nachwahlbefragung von LeeWas im Auftrag von ‹20Minuten› und Tamedia zeigte, dass insbesondere Menschen mit tiefen Einkommen Ja stimmten zur 13. AHV-Rente, hingegen Haushalte mit hohem Einkommen dagegen votierten. Das gleiche Bild zeigt sich bei der Ausbildung, Absolvent:innen einer Fachhochschule oder einer Universität sagten Nein (wenn auch knapp), Menschen mit obligatorischer Schulbildung oder mit einem Lehrabschluss sagten klar Ja. Es gab allerdings auch einen Altersgraben: Die Initiative fand mehr Zustimmung bei den Pensionierten als bei den unter 34-Jährigen. Dennoch scheint, als ob hier für einmal Menschen mit tiefem Einkommen in ihrem Interesse abgestimmt haben. Die Nachwahlbefragung zeigte auch – wenig überraschend –, dass der Brief der Alt-Bundesrät:innen schlecht angekommen ist. Ebenso deutlich ist, dass die Menschen dem Versprechen, dass nach einem Nein etwas für die ärmsten Rentner:innen unternommen wird, misstrauten. Das liegt auch ein bisschen auf der Hand, dass man nicht glaubt, dass jene Mehrheit den gleichen Vorschlag, den sie als Gegenvorschlag abgelehnt hat, nach einer gewonnenen Abstimmung dann doch noch umsetzen will.
Viel war auch die Rede vom Zeitgeist, der sich verändert hat. Politologe Claude Longchamp sprach im ‹Tages-Anzeiger› von einem «links-konservativen Rutsch», der durch die Gesellschaft gegangen sei. Tatsächlich war es wohl eine Achse zwischen Wähler:innen von Linken und Grünen sowie von SVP und Mitte, welche die Abstimmung entschieden hat. Dazu kam, dass die Kaufkraftverluste, steigende Mieten und Krankenkassenprämien, steigende Energiepreise und sinkende Pensionskassenrenten real spürbar waren. Ebenso plausibel scheint mir die Vermutung, dass die Menschen angesichts der Rettung zweier Grossbanken und den Ausgaben während Corona zum Schluss gekommen sind, dass Geld verfügbar ist, wenn der politische Wille da ist. So meinte denn auch Claude Longchamp, das Kostenargument habe nicht gezogen, weil es in der jüngsten Zeit so viele ausserordentliche Mehrausgaben gegeben hat. Und «weil die Armee vom Sparen ausgenommen wurde und die Landwirtschaft neue Forderungen stellt. Da sagen sich viele: Weshalb soll ich verzichten, wenn es andere auch nicht machen müssen?».
In einer sehr optimistischen Deutung kann man sich erhoffen, dass dieses Abstimmungsresultat auch politisch nachhallen mag. Dass mindestens ein Teil von Wirtschaft und Bürgerlichen zum Schluss kommen könnte, dass sozialer und gesellschaftlicher Ausgleich in den letzten Jahren zu kurz gekommen ist. Diesen Moment gab es ganz kurz nach der grossen Finanzkrise 2008. Indes war da der Lerneffekt gering und verkehrte sich in den darauffolgenden Jahren eher noch ins Gegenteil. Die Reaktionen der Abstimmungsverlierer:innen lassen wenig Hoffnungen aufkommen. Der Freisinn ist in erster Linie pikiert und dezidiert gegen jede Lösungssuche. Die SVP erzählt das, was sie schon immer sagte, nämlich, dass man bei der Entwicklungshilfe sparen soll. Und ausgerechnet Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung von Economiesuisse, beklagt gegenüber ‹20Minuten› den fortschreitenden Egoismus in der Gesellschaft: «Jeder schaut für sich», das sei die Tendenz. Einzig bei der Mitte – und allenfalls bei der GLP – könnte man Verbündete für eine Wiedererstarkung einer sozialeren Marktwirtschaft finden. Einzelne nicht uneinflussreiche Mitglieder wie beispielsweise der Walliser Ständerat Beat Rieder machen sich für eine Finanztransaktionssteuer stark, mit der die AHV-Finanzierung verbessert werden könne. Sollte die Mitte tatsächlich versuchen, sich sozial in den nächsten Jahren mehr von FDP und SVP abzugrenzen, könnten sich interessante Perspektiven aufbauen.
Zuviel Hoffnung darf man sich allerdings nicht machen. Zum einen fanden gleichzeitig in St. Gallen und Schwyz Wahlen statt, die von der SVP klar gewonnen wurden. Elektoral scheint es ihr kaum zu schaden, dass sie an ihrer Basis vorbei politisiert. Zum zweiten stehen weitere Abstimmungen bevor: Im Juni stimmen wir über die Prämienverbilligungsinitiative der SP ab, der eigentlich gewisse Chancen zugebilligt werden. Die Mitte hat dort schon die Nein-Parole beschlossen, im Gegenzug lehnt die SP die Initiative der Mitte für eine Kostenbremse ab. Im Juni wird sich zeigen, ob wir wirklich von einer Zeitenwende sprechen können.