Verbaerbockt?

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Die grüne Kanzler­kandidatin Annalena Baerbock ist angezählt. Bei der Bekanntgabe ihrer Kandidatur war sie kometenhaft gestartet. Ihr frisches und forsches Auftreten überzeugte zu Beginn. Mittlerweile ist unklar, ob sie die nächsten Tage und Wochen politisch überlebt. Die den Grünen nahestehende Zeitung TAZ schrieb vor zwei Tagen: «Es ist vorbei, Baerbock!» Sie forderte, dass die Grünen Baerbock durch den Grünen Co-Präsidenten Robert Habeck ersetzten. Dass jemand, der gross abhebt, früher oder später am Boden landet – oder zur Landung gezwungen wird –, ist nichts Neues. So erging es auch dem glücklosen Martin Schulz, der 2017 Kanzlerkandidat der SPD war. Weitere Beispiele gibt es zuhauf. Dennoch zeigt die Demontage von Annalena Baerbock den Zustand des heutigen Journalismus genauso wie den Umgang mit forschen Frauen ziemlich exemplarisch auf.

 

Was ist geschehen? Begonnen hat die Geschichte mit Baerbocks Studium. Annalena Baerbock hat an der Universität Hamburg Politikwissenschaften studiert und später an der renommierten London School of Economics den Abschluss Master of Law erworben. Klingt gut? Leider nein: Denn Baerbock hat an der Universität Hamburg lediglich das Vordiplom abgeschlossen und keinen Bachelorabschluss erworben. Was allerdings Baerbock auch nie behauptet hat. Zudem hatte sie im Lauf der Zeit kleinere Änderungen im Lebenslauf vorgenommen. So stand in einer Version im Lebenslauf Politikwissenschaften, und anderswo schrieb sie von einem Politikstudium. Allein das reichte, um Baerbock zur Hochstaplerin zu machen. Ein Fehlerlein bleibt selten allein, und da fand man auch noch ein paar falsche Angaben zu Mitgliedschaften. Und schon war für Presse und Allgemeinheit klar: Annalena Baerbock fälscht ihren Lebenslauf. Dass kein Mensch je komplett identische Lebensläufe für Bewerbungen einreicht und die allermeisten auch die Tendenz haben, sich im Lebenslauf vorteilhaft darzustellen, ist offenbar egal. Der zweite Fehler folgt sogleich. Baerbock meldete dem Bundestag Nebeneinkünfte von 2018 bis 2020 von 25 000 Euro nach, die sie vorher versehentlich nicht angegeben hatte. Dieses Vergehen ist ernsthafter als die Lebenslauflappalie. Es kamen die nicht nur unberechtigten Vorwürfe auf, man hätte Baerbock im Vorfeld etwas besser vorbereiten und prüfen sollen. 

 

Der neuste Vorwurf: Plagiat. Ein Plagiatsjäger wirft ihr vor, in ihrem Buch «Jetzt. Wie wir das Land erneuern» unkorrekt zitiert zu haben und gewisse Stellen aus anderen Texten übernommen zu haben. Plagiatsvorwürfe haben in den letzten Jahren einige PolitikerInnen bereits den Kopf gekostet: So den ehemaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg oder SPD-Familienministerin Franziska Giffey. Dort handelte es sich allerdings im Gegensatz zu Baerbocks Buch um Dissertationen, also um wissenschaftliche Arbeiten. Der mediale Tenor: Das Vergehen ist nicht wirklich schlimm, keine reale Urheberrechtsverletzung. Aber einmal mehr: schludriges Arbeiten, Fehler, schlecht beraten. Dabei könnte man den meisten journalistischen Arbeiten und allerlei Büchern die gleichen Vorwürfe machen. 

 

Derweil bleibt Baerbocks Konkurrenz relativ unbehelligt. Dabei gäbe es da durchaus potenzielles Material. So gibt es den Vorwurf der Vetternwirtschaft an den CDU-Kandidaten Armin Laschet bei der Maskenbeschaffung als Ministerpräsident. Das Land hatte da mehrere Aufträge ohne Ausschreibung an eine Modefirma vergeben. Den Kontakt zur Firma hatte Laschets Sohn vermittelt. Auch SPD-Kandidat Olaf Scholz ist in einen potenziellen Skandal verwickelt rund um die Cum-Ex-Affäre. Ihm wird vorgeworfen, sich als Hamburger Bürgermeister in ein Steuerverfahren rund um die Warburg Bank eingemischt und die Steuerbehörde dazu gebracht zu haben, auf einen happigen Betrag von 47 Millionen Euro zu verzichten. Scholz streitet diesen Verdacht vehement ab. Vielleicht ist an beiden Fällen kaum etwas dran. Wir wissen es allerdings nicht, denn im Wahlkampf sind diese Skandale kein Thema. Wichtiger sind da leichte Anpassungen in Lebensläufen oder ein etwas schnell dahergeschriebenes Buch.

 

Es fällt auf, mit welcher Hingabe sich die Presse auf immer wieder neue Skandale rund um Baerbock stürzt. «Kleinkram» zwar, schreibt die ‹Süddeutsche Zeitung› am Dienstag, aber «in jedem Fall relevant». Der Fall hat starke Parallelen zum US-Wahlkampf 2016. Auch dieser war dominiert von realen und vielmehr vermeintlichen Skandälchen rund um die demokratische Kandidatin Hillary Clinton. Die Medien schossen sich dabei auf Clintons privaten Mailserver während ihrer Zeit als Aussenministerin genauso ein wie auf die geleakten Mails aus der Parteizentrale oder von Clintons Wahlkampfmanager. Nichts davon war wirklich schlimm, ein wenig Geläster, ein paar ungeschickte Äusserungen, Kleinkram eben. Trotzdem verdichtete sich durch die kontinuierliche Berichterstattung und das tröpfchenweise Erscheinen neuer Details immer mehr der Eindruck einer fehlerbehafteten und beschädigten Kandidatin. Derweil der bei weitem nicht skandalfreie Gegenkandidat ziemlich unbehelligt blieb. Nach den Wahlen gab es reichlich Medienschelte und ein klein wenig Selbstkritik. Man habe sich im Wahlkampf medial zu fest um Nebensächlichkeiten und zu wenig um Inhalte gekümmert. Auf den Lerneffekt warten wir noch immer. 

 

Die Bundestagswahlen sind da sehr ähnlich. Ob sich WählerInnen für Inhalte interessieren, erfahren wollen, was Kandidierende eigentlich vorhaben – wir wissen es nicht. Die Medien trauen es ihnen auf jeden Fall nicht zu. Es wird hier den Medien auch recht leicht gemacht. Wie bei den geleakten Mails gibt es wenig zu tun für die JournalistInnen. Die Skandale werden schon pfannenfertig geliefert, grosse Recherchen sind unnötig. Und die Baerbock-soll gehen-oder-bleiben-Leitartikel sind auch einfach geschrieben. Woher die Informationen kommen, ist da weniger wichtig. Laut einem Artikel auf dem Portal T-Online könnten politische Motive hinter der Arbeit des Plagiatsvorwerfers stehen. Dieser streitet es ab. Wir wissen es nicht.   

 

Vielleicht ist es nun tatsächlich vorbei mit Annalena Baerbocks Kanzlerambitionen. Vielleicht ist das auch gut so, denn vielleicht hätte sie es auch nicht gekonnt. Nur: Die hier angelegten Massstäbe von Reinheit und Fehlerlosigkeit sind dafür kaum die richtigen Gradmesser. Denn auch Politik wird nur von Menschen gemacht. Von Anfang an hiess es, Konkurrent und Mitstreiter Robert Habeck wäre der bessere Kandidat gewesen. Das mag sein. Die Vermutung liegt aber auch nahe, dass er niemals dem gleichen Beschuss ausgesetzt worden wäre. Damit beisst sich die Katze einmal mehr in den Schwanz. «Macht ist da, wo die Bärte sind», hiess es einst bei Molière. Es ist wohl immer noch so.

 

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