Transparenz und Vertrauen

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Mein neuer Beitrag im Clack:

Im Aargau ist Transparenz und Privatsphäre gerade ein grosses Thema. Nicht nur beim Badener Stadtamman. Ich sage es gleich zu Beginn: In dieser Kolumne geht es NICHT um Nackt-Selfies. Wer jetzt nicht mehr weiterliest, hat sich selber verraten…

Nein, es geht hier um Transparenz. Zwei Beispiele: Die Aargauer Jungsozialisten haben eine Initiative eingereicht, die mehr Transparenz in die Politik bringen will. Unter anderem dadurch, dass jeder Kandidat fürs Parlament seine Einkommen- und Vermögensverhältnisse offen legen muss. Die Initiative kommt im September zur Abstimmung.
In der Stadt Zürich wurde im Wahlkampf vom Freisinnigen Marco Camin gegen den Alternativen Richard Wolff, dem FDP-Mann zum Verhängnis, dass er seine Steuererklärung sperren liess. Das wurde ihm als Geheimniskrämerei ausgelegt – ein Gegensatz zum offenen Wolff.

Persönlich finde ich sowohl steuerbares Einkommen wie auch Wohnzimmereinrichtung für die Eignung als Stadtrat oder Parlamentarier komplett irrelevant. Im heutigen Zeitalter wohl eher ungewöhnlich oder unpopulär. Schliesslich ist im Zeitalter von Wikileaks Transparenz das Mass aller Dinge.

Das Problem, das bei all dieser Transparenz vergessen geht: Das Hauptproblem in der Politik ist nicht fehlende Transparenz, sondern ungleiche Spiesse. Dass Verbände stark sind und Parteien schwach. Und dass ein (Wirtschafts-)verband sehr viel mehr Mittel hat, als alle anderen. Oder dass Milliardäre Kampagnen aus dem eigenen Sack finanzieren. Die Transparenz ist das Mittel zum Zweck und nicht das der Zweck an und für sich.

Wir wissen zwar, welcher Nationalrat und welche Nationalrätin in welchem Verwaltungsrat sitzt: Nur – was nützt uns das? Werden von diesem Wissen die Interessensvertretungen kleiner? Was nützt es, wenn wir wissen, wieviel Aargauer Grossräte verdienen? Was man nicht will, soll man regulieren. Offenlegung – das sieht man auch bei den Managerlöhnen – bringts nicht.
Viel wichtiger ist aber das andere: Transparenz ist nicht die Voraussetzung von Vertrauen, sondern das Gegenteil davon. Und Vertrauen zu den Menschen und in die Institutionen ist das Fundament unserer modernen, demokratischen Gesellschaft. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Das war das Motto von Lenin. Nicht eines, dass wir in einem demokratischen und freiheitlichen Staat anstreben sollen.

Der gläserne Mensch ist nicht frei, er ist der grausamen moralischen Lupe ausgesetzt. Der Wunsch nach Transparenz geht einher mit dem Wunsch nach dem einwandfreien Menschen. Es heisst denn ja auch: Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten. Nur – wer hat denn schon nichts zu verbergen? Die Mutter belogen, den Partner betrogen oder versucht bei einer Prüfung zu mogeln? Dass wir wohl alle Dinge getan haben, auf die wir nicht stolz sind oder die uns peinlich sind, macht uns zu Menschen. Dass wir Scham dafür empfinden, macht uns zu besseren Menschen. Gibt es noch Scham, wenn alles öffentlich ist?

Die 1968er sagten: Das Private ist politisch. Heute müsste man sagen: Die Privatsphäre auch. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin gegen das Bankgeheimnis für Steuerhinterzieher und –hinterzieherinnen. Und ich halte unser System bei der Parteien- und Kampagnenfinanzierung demokratiepolitisch für fatal. Und natürlich ist es ein Fortschritt, dass Verbrechen wie häusliche Gewalt oder Kindsmissbrauch öffentlich thematisiert werden.

Wir brauchen aber die Diskussion, was öffentlich sein soll und was nicht. Auch öffentliche Personen haben das Recht auf Privatsphäre. Wir brauchen keine Tyrannei der Intimität. Was ich genau zu verbergen habe, bleibt der Phantasie der Lesenden überlassen. Und das ist gut so.