Gegen oben buckeln, nach unten treten

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Erschienen bei clack.ch

Das Muster ist immer gleich. Ein mehr oder weniger skandalöser Einzelfall taucht auf. Die SVP schreit auf und fordert eine radikale Lösung. Die anderen Parteien lehnen diese vorerst ab. Der Blick greift den Fall auf und verpasst der ganzen Geschichte einen knackigen Titel wie zum Beispiel «Sozial-Irrsinn». Die anderen Medien springen auf. Und weil bei jedem System, das von Menschen für Menschen gemacht wird, auch Konstruktionsfehler, Pleiten, Pech und Pannen gefunden werden, finden sich weitere Skandale. Die Debatte ist aufgeheizt.

Massnahmen werden ergriffen, um den Fall zu lösen und noch weitere potenzielle Probleme zu verhindern. Und die Forderungen der SVP werden nicht zu 100 Prozent, aber dann doch zu 70 Prozent umgesetzt. Und jeder weiss, es war die SVP, die die Missbräuche anprangert und die anderen zum Handeln zwingt. Irgendwann stellt sich dann heraus, dass der skandalöse Einzelfall, der die Geschichte ins Rollen gebracht hat, gar nicht so skandalös war. Aber das interessiert dann keinen mehr.

Das Problem an der ganzen Geschichte: Es geht nicht darum Probleme – die immer real auch vorhanden sind – zu lösen. Denn die SVP will nicht Probleme lösen, sie will das ganze System bekämpfen. Sie wollen nicht das Asylgesetz reformieren, sie wollen das Recht auf Asyl abschaffen. Sie wollen nicht Missbräuche bei der Sozialhilfe verhindern, sie wollen die Sozialhilfe insgesamt in Frage stellen.

Das Fundament unserer Strafgesetzes beruht auf der Überzeugung, es sei besser, «dass zehn Schuldige entkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird», um William Blackstone, einen englischen Juristen aus dem 18. Jahrhundert zu zitieren. Genauso ist der Sozialstaat eine grosse zivilisatorische Errungenschaft. In der Schweiz muss niemand auf der Strasse leben. Es gibt ein soziales Netz, das trägt. Und so steht auch in der Bundesverfassung, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.

Was passiert, wenn es anders ist, können wir nicht nur im Ausland beobachten, sondern auch, wenn wir unsere Vergangenheit studieren. Die Familie aus Hagenbuch kostet die Gemeinde so viel, weil die Kinder fremdplatziert werden müssen. Früher schickte man solche Kinder als sogenannte Verdingkinder zu Bauersfamilien, wo sie im besten Fall nur als Gratis-Arbeitskräfte missbraucht wurden.

Bei der 1:12- und bei der Abzocker-Initiative warfen die Gegner den Befürwortern gerne Neid vor. Persönlich hat mich Geld nie genug interessiert, um neidisch zu sein. Ich möchte nicht tauschen mit Brady Dougan. Aber bei reichen Leuten lohnt sich der Neid wenigstens. Warum dann aber Missgunst bei Sozialhilfeempfängern und Flüchtlingen? Will da jemand ernsthaft tauschen?

Wer hart arbeitet und nur mit Ach und Krach über der Armutsgrenze ist, nervt sich vielleicht über jene, die nicht arbeiten und vom Staat noch Geld erhalten. Der Mensch vergleicht sich in der Regel mit jenen, die auch vergleichbar sind. Darum bin ich eher auf einen Bekannten neidisch, den ich für einen Trottel halte und der dennoch Karriere macht, denn auf Brady Dougan.

Wer gegen oben buckelt und gegen unten tritt, tut dies in der – durchaus nachvollziehbaren – Hoffnung, sich von denen unten differenzieren zu können. Und vergisst dabei, dass sich die oben eben auch nur mit denen oben vergleichen. Und so schliesse ich mit Brecht:

Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr, in Bälde
Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt.