Neuer Schub

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Der Abstimmungssonntag war insgesamt recht erfreulich. Die Wohninitiative wurde abgelehnt, was sicher ein Wermutstropfen ist, aber auch nicht ganz unerwartet. Sie nahm den Verlauf, den viele linke Initiativen nehmen. Nachdem ursprünglich eine Mehrheit der Stimmberechtigten Sympathien fürs Anliegen zeigt, nimmt – auch nach den üblichen Angstkampagnen der Gegner – die Zustimmung immer mehr ab. Am Schluss reicht es dann nicht mehr. 57,1 Prozent sagten Nein zur Initiative «Für mehr bezahlbare Wohnungen». Mit über 40 Prozent erreicht die Initiative somit also wenigstens einen Achtungserfolg, zumal alle grösseren Städte der Initiative zustimmten.

 

Viele wundern sich jeweils, warum ein Volk der Mieterinnen und Mieter solche Initiativen ablehnt – oder sich eine Mehrheit der Arbeitnehmenden gegen mehr Ferien ausspricht. Mindestens bei der Mietrechtsfrage ist es nicht ganz so einfach. Laut der Umfrage von LeeWas im Auftrag von Tamedia und ‹20 Minuten› stimmte nämlich eine Mehrheit der Mieterinnen und Mieter der Initiative zu. Sie wurde aber von den HauseigentümerInnen klar abgelehnt. Zudem sind die HauseigentümerInnen unter den Stimmberechtigten weitaus stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung. Die meisten Kommentare meinten, das Problem müsse man lokal lösen. Das scheint mir ein klarer Auftrag zu sein.  Und dies könnte nicht nur in den grossen Städten klappen, sondern auch in der Agglomeration, wie das sensationelle Ja zur Bodeninitiative in Adliswil zeigt (siehe Seite 6).

 

Die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes wurde deutlich angenommen. 63,1 Prozent sagten Ja zur Ausweitung der Anti-rassismus-Strafnorm. Nur in drei Kantonen gab es ein Nein, in Uri, Schwyz und Appenzell Innerrhoden. Selbst in Appenzell Innerrhoden, wo das Nein am deutlichsten war, sagten noch 45,9 Prozent Ja. Dieses deutliche Zeichen lässt hoffen für weitere Schritte wie eine Ausweitung der Schutznorm auf Transmenschen. Der Nationalrat hatte dies eigentlich vorgesehen, der Ständerat strich das mit dem Verweis auf die Mehrheitsfähigkeit wieder aus. So wie das Abstimmungsergebnis zu deuten ist, scheint es, als ob die Mehrheit der Stimmberechtigten gesellschaftspolitisch weit mutiger ist als das Parlament.

 

Das gilt auch für die Ehe für alle. Umfragen deuten auf eine hohe Zustimmung hin, und man kann in Gegensatz zu rein linken Anliegen davon ausgehen, dass die Zustimmung bleibt. Die Ehe für alle ist auch im Parlament breit mehrheitsfähig – bis auf eine Sache: den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin. Im konkreten geht es um den Zugang von lesbischen Paaren zur Samenspende. 

Die Geschichte der Ehe für alle hatte einige Irrungen und Wirrungen. Die Grünliberalen reichten 2013 eine parlamentarische Initiative für eine Ehe für alle ein. Die Verwaltung stellte sich zu Beginn auf den Standpunkt, dass eine Ehe für alle eine Verfassungsänderung braucht. Andere JuristInnen und auch Teile der Kommission waren dezidiert anderer Meinung. Dies verzögerte die Umsetzung der parlamentarischen Initiative. 

Als man zum Schluss kam, dass es ohne Verfassungsänderung möglich ist, eine Ehe für alle einzuführen, ging es plötzlich schnell, und die Verwaltung legte eine schlanke und unkomplizierte Vorlage vor. Dabei wollte man aber die Vorlage auf eine Kernvorlage reduzieren und umstrittene Punkte wie den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin ausklammern. Auch da war die Begründung: Dies bräuchte wiederum eine Verfassungsänderung. Ein Rechtsgutachten der LBGTQ-Verbände stellte dies infrage. In der Verfassung steht nämlich, dass der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin nur dann erlaubt ist, «wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann». Die «Unfruchtbarkeit» als Voraussetzung, so wurde im Gutachten argumentiert, könne auch im übertragenen Sinn für gleichgeschlechtliche Paare gelten. Wenn die Unfruchtbarkeit so interpretiert wird, dass Unfruchtbarkeit dann vorliegt, wenn ein Paar zusammen keine Kinder zeugen kann. Im Fortpflanzungsmedizingesetz ist zudem die Einschränkung, dass die Samenspende nur bei verheiraten Paaren zulässig ist.

 

Nach dem Willen des Bundesrats und der knappen Mehrheit der Rechtskommission des Nationalrats vor den Wahlen soll auch bei der Ehe für alle künftig nur heterosexuellen Ehefrauen der Zugang zur Samenspende erlaubt sein. Die Begründung ist im Wesentlichen politisch: Man fürchtet, mit diesem Zusatz sei die Ehe für alle nicht mehrheitsfähig. Die LBGTQ-Verbände sprechen sich klar für den Zugang aus. Eine Ehe für alle sei nur dann eine Ehe für alle, wenn sie auch die gleichen Rechte mit sich bringe. 

Die GegnerInnen einer Öffnung argumentieren verschieden. Die einen sind grundsätzlich gegen die Fortpflanzungsmedizin. Andere fürchten, dass dann die Leihmutterschaft bald käme. Wieder andere finden, ohne Leihmutterschaft sei der Zugang zur Samenspende eine Diskriminierung schwuler Paare. Als letztes wird die Befürchtung ausgesprochen, dass das so gezeugte Kind sein Recht auf Kenntnis der Abstammung nicht wahrnehmen könne. 

Viele dieser Einwände sind rechtlich leicht entkräftet. Schwule Paare werden nicht diskriminiert, weil die Leihmutterschaft für alle verboten ist. Für heterosexuelle Paare wie für gleichgeschlechtliche. Es gibt aber keinen sachlichen Grund, warum es bei der Samenspende zwei Kategorien von Ehefrauen gibt: Wer mit einem Mann verheiratet ist, wäre zugelassen, aber wer mit einer Frau verheiratet ist nicht. Zudem: Im Gegensatz zur Frage der Unfruchtbarkeit gibt es bei der Leihmutterschaft im Verfassungstext keinen Spielraum: «Die Embryonenspende und alle Arten von Leihmutterschaft sind unzulässig.» Würde man also die Leihmutterschaft einführen wollen, müsste man ganz sicher eine Verfassungsänderung machen. Das Recht auf Kenntnis der Abstammung ist heute schon im Fortpflanzungsmedizingesetz geregelt und würde natürlich analog auch für gleichgeschlechtliche Paare gelten: In der Schweiz gibt es keine anonyme Spende. Durch Samenspende gezeugte Kinder haben das gesetzlich verankerte Recht auf Auskunft über den Spender.

 

Viel hört man auch: Es gibt kein Recht auf ein Kind. Das mag sein. Aber es ist doch fragwürdig, wenn das Gesetz den einen dieses Recht auf den Versuch verweigert, während er ihn anderen gewährt. Kinderwunsch ist schliesslich keine Frage der sexuellen Orientierung. Laut Umfragen ist eine Mehrheit für eine Ehe für alle mit Zugang zur Fortpflanzungsmedizin. Im Nationalrat ist eine Mehrheit möglich. Im Ständerat sieht es weniger rosig aus. Aber auch da gilt: Wer mit Mehrheitsfähigkeit argumentiert, sollte dabei in Betracht ziehen, dass die Mehrheit schon lange woanders ist.