Auch wenn heilige Kühe reihenweise geschlachtet werden, bleibt eine hartnäckig am Leben: Das Milizsystem. Eine Stütze unserer politischen Gesellschaft, der Kern unserer politischen Kultur. Eine heilige Kuh eben. Nur macht sie überhaupt noch Muh, oder bloss Mühe?
Der Zürcher Kantonsrat hat sich jüngst die eigene Entschädigung erhöht, neu sollen die KantonsrätInnen statt 24 000 Franken pro Jahr 39 000 Franken pro Jahr erhalten. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. SVP-Kantonsrat Hans-Peter Amrein hat dazu eine Beschwerde eingereicht. Er glaubt, es sei verfassungswidrig, dass sich die Stimmbevölkerung nicht zur Entschädigungsfrage äussern kann. Die SVP hat sich denn auch im Kantonsrat heftig gegen die Erhöhung gewehrt. Heimlich ist wohl manch einer von ihnen froh, dass sie in der Minderheit geblieben sind.
Dieses Spielchen ist nämlich wohlbekannt: Die SVP wehrt sich gerne gegen parlamentarische Entschädigungen und andere Leistungen. Das kommt gut an beim Volk, das Politiker sowieso nicht mag. Ausser jene von der SVP natürlich. Denn das sind ja auch keine Politiker. Sondern Volksvertreter. Dieses Spiel geht auch meistens auf: Wer Kürzungen fordert, ist meistens nicht auf das Geld angewiesen. Und alle anderen wissen genau, dass der Rest des Parlaments schon dafür schaut, dass es nicht so weit kommt.
Die neue Entschädigung für Zürcher KantonsrätInnen wäre die höchste im Land, rechnete die NZZ vor. In Appenzell Ausserrhoden erhalten die Kantonsräte am wenigsten. Welche Entschädigung ist richtig? Wie wird sie richtig bemessen? Mit wem und was lässt sich die Arbeit einer Kantonsrätin vergleichen? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht trivial. Aber man soll die Diskussion nicht aus Angst vor dem Volkszorn scheuen. Denn das Milizsystem wird kaum dadurch gerettet, dass man die Realität verleugnet.
Die Krise des Milizsystems ist an vielen Orten offenkundig. Nicht nur in kleinen Gemeinden. Sondern selbst da, wo sich immer noch genügend Leute finden. Im Zürcher Kantonsrat beispielsweise oder noch offenkundiger in den Gemeinderäten von Zürich und Winterthur.
Ich war fast 14 Jahre im Gemeinderat Zürich. Davon rund sieben Jahre als Fraktionspräsidentin. In dieser ganzen Zeit habe ich nie hundert Prozent gearbeitet. Weil das gar nicht gegangen wäre. Und ich hatte das Glück, Arbeitgeber zu haben (zum Teil war ich selber die Arbeitgeberin), die es möglich gemacht haben, einen Teil der Ratsarbeit während der Arbeitszeit zu erledigen. Die Entschädigung deckte den Aufwand bei weitem nicht, insbesondere für das Fraktionspräsidium. Ich habe in den Jahren erlebt – und das Problem hat sich immer mehr akzentuiert – wie immer mehr Ratsmitglieder nach immer kürzerer Zeit zurücktraten. Die Begründung war in der Regel berufliche oder familiäre Belastung oder beides zusammen. Das verwundert nicht weiter: Bei vielen Arbeitgebern ist die Freude für Mitarbeitende, die Milizarbeit leisten, gesunken. Denn sie sind nicht flexibel, müssen immer wieder früher gehen und haben eine politische Färbung. Das führt dazu, dass viele nur noch Teilzeit arbeiten können und entsprechende Ausfälle bei Lohn und Altersvorsorge in Kauf nehmen müssen. Ausnahme: Parteien und Verbände, die ein Interesse an der Parlamentsarbeit haben, seien es Gewerkschaften oder der Hauseigentümerverband. Erschwerend kommt die Vereinbarkeitsfrage hinzu. Schon die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist anspruchsvoll. Wenn noch die Politik dazu kommt, wird es noch schwieriger. Gerade weil Sitzungszeiten und der Politbetrieb oft nicht familientauglich sind.
Es werden nicht alle Probleme mit einer Erhöhung der Entschädigung gelöst. Aber alles zu lassen, wie es ist, ist keine Alternative. Unsere Parlamente und unser System sind noch Relikte einer Zeit, in der Ratsmitglieder (vor allem Ratsherren) kaum familiäre Pflichten übernommen haben und als Milizarbeit noch Prestige mit sich brachte und allgemein auf Verständnis stiess. Die Arbeitsbelastung war wohl oft auch kleiner.
Heute ist das anders. Gerade im nationalen Parlament ist der gute alte Milizpolitiker akut vom Aussterben bedroht. Schon rein die Sessionen – ein Relikt aus dem Postkutschenzeitalter – machen das Berufsleben für viele fast unmöglich. Welches Unternehmen will denn eine Mitarbeiterin, die viermal pro Jahr jeweils drei Wochen mehr oder minder total ausfällt? Bei mir geht das nur, weil ich die Chefin bin. Die Freude des Teams hält sich – zu Recht – in Grenzen. Wer sich als Nationalrätin, so wie ich, immer noch stark beruflich engagiert, hat ein weiteres Handicap. Real bleibt nämlich zu wenig Zeit, sich um all das zu kümmern, was mittlerweile auch zum Amt gehört: Medienarbeit, Präsenz markieren, Vernetzung, Dauerwahlkampf. Ich möchte mich nicht beklagen: Der Nationalrat ist vergleichsweise gut entschädigt, auch wenn die medial vielzitierten 140 000 Franken Jahresverdienst nicht der Realität entsprechen. Grundsätzlich finde ich es sinnvoll, dass man auch im Nationalrat ein beruflliches Standbein behält. Nicht nur wegen der Arbeitsmarktfähigkeit, sondern vor allem auch, weil es uns neben der Käseglocke Nationalrat recht gut tut, auch mal mit normalen Menschen Zeit zu verbringen; in einem Kontext, wo man vielleicht mal nicht so wichtig ist. Das Milizsystem wäre daher eigentlich eine gute Sache.
Die Räte waren wohl noch nie ein Abbild der Bevölkerung, heute sind sie es schon gar nicht mehr. Viel wurde – zu Recht – über die Vertretung der Geschlechter gesprochen. Aber viele andere sind noch viel mehr untervertreten: Wo sind die Migros-Verkäuferinnen, Fabrikarbeiter, die Sozialhilfeempfänger oder die Eingebürgerten? Parlamente dürfen nicht nur für FreiberuflerInnen, Millionäre, PolitfunktionärInnen und Menschen ohne familiäre Pflichten machbar sein. Sondern für alle. Mindestens in der Theorie.
Ich bin ironischerweise als Gemeinderätin erstaunlich vielen Leuten begegnet, die glaubten, man könne vom Gemeinderatsmandat leben. Die waren jeweils recht erstaunt und fast erschrocken, wenn sie die Wahrheit erfahren haben. Wer glaubt also überhaupt noch an das Milizsystem? Und wer misst ihm noch Wert zu? Das Milizsystem ist öfters nur noch das Killerargument, um überhaupt nichts am Status quo zu verändern. Der Verdacht liegt nahe, dass die ParlamentarierInnen durchaus wissen, wie die Realität ist, aber sich damit ganz gut arrangiert haben. Die Kuh lebt zwar noch. Aber wohl vor allem in den Parlamenten selber.