Seit Jahren ärgert mich eine gewisse Form der Politikberichterstattung, die eine falsche Äquivalenz mit Objektivität verwechselt. Diese beliebte Form geht wie folgt: Die einen sagen dies, die anderen sagen das, die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Und gescholten werden die Polparteien, gelobt werden die dazwischen. Polarisierung ist in dieser Lesung immer schlecht, Kompromisse sind immer richtig. Diese Berichterstattung ist wohl besonders populär, weil sich ein Grossteil der Journalistinnen und Journalisten politisch genau da einordnen würde. Und die eigene politische Position natürlich vernünftig findet.
Das Problem: Die vermeintlich objektive Position ist genauso politisch. Erschwerend kommt dazu, dass zuweilen auch die eine Seite tatsächlich objektiv vernünftiger ist. Nehmen wir das Beispiel Klimawandel. Wenn die eine Seite sagt, es gäbe einen Klimawandel, und die andere Seite, es gäbe keinen, dann gibt es keine vernünftige Position der Mitte.
Auch historisch gesehen ist der Kompromiss und die Mitte nicht immer das, was die Gesellschaft voranbringt. ‹Politico›-Mitbegründer John F. Harris, der diese Form der Berichterstattung selber oft praktizierte, kritisierte diese Tendenz in einer bemerkenswerten Kolumne. Er zitiert dabei den Historiker Arthur Schlesinger Jr., der meinte, dass grosse Präsidenten immer erst durch die Geschichte zu Staatsmännern wurden. Zu ihren Amtszeiten hingegen haben sie polarisiert. Weil sie die Sklaverei abschaffen, Bürgerrechte stärken wollten oder den Wohlfahrtsstaat eingeführt hatten. Das gilt genauso für die Schweiz. Hätten sich in der Schweiz nicht auch mitunter Radikale durchsetzen können, hätten wir heute keine Volksschule, keine SBB und kein Frauenstimmrecht.
Der Journalist und Vox-Mitgründer Ezra Klein schreibt in seinem Buch «Why we are polarized» (Warum wir polarisiert sind) über die zunehmende Polarisierung der amerikanischen Politik. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren hatten sich amerikanische Politologen noch darüber beklagt, dass sich Demokraten und Republikaner zu sehr ähnelten und zu viele Kompromisse eingingen. Für die WählerInnen gäbe es da gar keine Auswahl. Das sollte sich in den 1960er Jahren durch Bürgerrechtsreformen, gesellschaftliche Veränderungen und Vietnamkrieg radikal ändern.
Doch noch bis in die frühen 1990er war es verbreitet, dass Amerikanerinnen und Amerikaner bei lokalen Wahlen einer anderen Partei die Stimme gaben als bei nationalen. Heute kommt das praktisch nicht mehr vor, auch wenn die Anzahl Personen abgenommen hat, die einer Partei angehören. Die Politologen Alan I. Abramowitz und Steven W. Webster führen das darauf zurück, dass die Identifikation mit der eigenen Partei zugenommen hat, aber es in erster Linie eine negative Identifikation ist: Man wählt die einen, weil man die anderen furchtbar findet.
Dieses Phänomen gibt es nicht nur in den USA. So scheint es, als ob der Erfolg der SP an jenen der SVP gebunden ist. Gewinnt die SVP, so profitiert auch die SP als deren Gegenspielerin. «Wir sind Blochermüde», meinte die SP der Stadt Zürich an einer grossen Demonstration 1995. Es war die erste Phase der Polarisierung, der Beginn der Erfolgsgeschichte der SVP.
Nicht nur Identifikation, sondern auch Identität spiele laut Klein eine zunehmende Rolle in der Politik. Wir alle haben verschiedene Identitäten: Wir sind irgendwo aufgewachsen, haben bestimmte Hobbys, sind Fan eines Clubs oder mögen eine bestimmte Musikrichtung. Laut Klein vermischen sich diese verschiedenen Identitäten mit der politischen zusehends zu einer einzigen Identität. Er führt dazu als anekdotisches Beispiel für diese Entwicklung einen TV-Spot an, der 2004 gegen Howard Dean geschaltet wurde. Howard Dean wollte Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden und verlor die Nomination nach anfänglichem Erfolg an John Kerry, der wiederum die Wahl gegen George W. Bush verlor. In diesem Spot wird ein älteres Ehepaar zu Howard Dean befragt. Sie meinen dann: Howard Dean soll seine steuererhöhende, staatsausbauende, Latte-trinkende, Sushi-essende, Volvo-fahrende, ‹New York-Times›-liebende, gepiercte, Hollywood-liebende linksaussen-Freakshow wieder zurück nach Vermont nehmen, wo sie hingehöre. Damit sind die überlappenden Identitäten klar sichtbar: Wer Demokraten wählt, mag auch Sushi und liest die ‹New York Times›. Wer die Republikaner wählt, der hasst neben höheren Steuern eben auch Latte und Volvos.
Diese Form der Tribalisierung der Politik ist kein amerikanisches Phänomen. Längst ist eine politische Einstellung nicht nur eine Frage der Inhalte oder der sozioökonomischen Herkunft, sondern auch eine (pop)kulturelle und kulinarische Frage geworden. Würde man eine SVP-Wählerin über ihr Bild von den Linken befragen oder einen SP-Wähler über seine Vorstellung von einer Rechten, wäre sicher auch das eine oder andere Klischee zu hören. Erschwerend hinzu komme laut Klein, dass Information diese Vorstellungen nicht mindere – im Gegenteil. Es seien laut Studien gerade jene, die politisch am meisten interessiert und informiert sind, die den politischen Gegner besonders falsch einschätzen würden. Demokraten schätzen den Anteil der Republikaner, die über 250 000 Dollar verdienen, auf 44 Prozent. In Wirklichkeit sind es nur 4 Prozent. Dafür glauben Republikaner, dass 38 Prozent der Demokraten schwul, lesbisch oder bisexuell sind, im Gegensatz zu den 6 Prozent, die es real sind.
Politische Polarisierung muss nicht schlecht sein. Demokratie lebt von einer klaren Auswahl, und sei es auch eine negative. Und in genügend Fällen macht die Vermischung der Identitäten auch inhaltlich Sinn. Wer den Klimawandel bekämpfen will, muss Parteien wählen, die auch entschlossen dagegen vorgehen wollen. Und wer den Klimawandel bekämpfen will, ist vermutlich auch jemand, der eher Bioprodukte kauft und Velo fährt. Und so findet er wohl in den Parteien, die er wählt, auch eher Politikerinnen, die ebenfalls Bioprodukte kaufen und Velo fahren.
Klare Positionen verunmöglichen auch Kompromisse nicht. Das zeigt die Schweizer Politik allen medialen Unkenrufen zum Trotz immer wieder. Dennoch braucht das demokratische Ideal etwas mehr als reine Gruppenzugehörigkeit als treibende Kraft. Es braucht immer auch eine echte Auseinandersetzung mit Argumenten und auch die Fähigkeit, sich davon auch einmal überzeugen zu lassen. Als Fan bleibt man seiner Mannschaft auch treu, wenn sie schlecht spielt. Aber das hindert einen nicht daran, das auch mal zuzugeben. Auch wenn natürlich gilt, was Fredi Bobic gesagt hat: «Man darf jetzt nicht alles so schlecht reden, wie es war.»