In Lugano ging eine 28jährige Schweizerin mit dem Messer auf zwei Passantinnen los und verletzte eines der Opfer schwer, aber zum Glück nicht lebensbedrohlich. Laut Angabe von Fedpol hatte die Täterin einen jihadistischen Hintergrund, aber auch psychische Probleme. Bereits vor einigen Wochen hatte ein psychisch verwirrter Mann in Morges vor einem Kebab-Stand einen zufällig ausgewählten Mann mit einem Messer angegriffen. Die Messerattacke war für das Zufallsopfer tödlich. Der Täter ist dem Nachrichtendienst als Islamist bekannt und war wegen gravierender psychischer Probleme und Beteiligung an einer Brandstiftung bis im Juli im Gewahrsam der Behörden. Damit erlebt die Schweiz innerhalb von kurzer Zeit zwei Messerattacken mit islamistischem Hintergrund. Daneben fanden in Frankreich und in Österreich islamistische Terroranschläge statt.
Ein häufiger Vorwurf nach solchen Attacken ist, dass die Linke bei diesen Vorfällen schweigt, währenddem sie rechtsextremen Terror deutlich verurteilt. Dieser Vorwurf besteht durchaus in umgekehrter Form gegen rechts. Dennoch muss man sich die Frage stellen, ob der Vorwurf berechtigt ist. Der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert hat im ‹Spiegel› dazu deutliche und selbstkritische Worte gefunden: «Insbesondere die politische Linke sollte ihr unangenehm auffälliges Schweigen beenden. Nicht, weil sie von rechts mit durchschaubaren Argumenten dafür kritisiert wird. Sie muss das Wort erheben, weil es auch und insbesondere ihre proklamierten Werte sind, die bei ausnahmslos jedem Terroranschlag mit Füssen getreten, mit Messern erdolcht und mit Sprengsätzen in die Luft gejagt werden.» Es gibt tatsächlich keinen Grund für Linke, eine solche menschen- und frauenfeindliche, reaktionäre und faschistoide Überzeugung nicht entschieden zu verurteilen. Der Grund für ein Schweigen darf auch nicht sein, dass solche Attentate immer wieder gerne dazu genutzt werden, sein eigenes politisch unappetitliches Süppchen zu kochen. In dieser Diskussion sind Rechte wie Islamisten zwei Kehrseiten der Medaille. Die einen nutzen die Gelegenheit, gegen den Islam und Muslime zu schiessen, und die anderen, sich als Opfer einer islamophoben Gesellschaft emporzustilisieren.
Dennoch muss auch gesagt werden: Mit der Verurteilung von islamistischen Attentaten ist noch kein Problem gelöst. Und diese Diskussion lenkt sowohl von den wahren Schuldigen wie von den Ursachen ab. Um diese Taten zu verhindern, müssen wir sie besser verstehen. Und wir müssen uns auch fragen, warum unsere Werte einer offenen, gleichberechtigten, freien und demokratischen Gesellschaft nicht bei allen ankommen, die in ihr leben.
Nach Terroranschlägen ist die Antwort stets, dass Gesetze verschärft, Überwachung ausgebaut und Repression verstärkt wird. Damit können durchaus auch Attentate verhindert werden. Allerdings passen sich die Strategien von Terrororganisationen auch den Begebenheiten an. Die beiden Terrorexperten Jessica Stern und J.M. Berger zeichnen in ihrem Buch «ISIS – State of Terror» die Unterschiede zwischen Al-Qaida und IS auf. War Al-Qaida noch eine recht ‹klassische› Terrororganisation, die auf Hierarchien, Zellen, Pläne und Organisation setzte, setzt der IS auf eine modernere Form einer Art Netzwerk und Crowd-Terrorismus. Ausserhalb des territorialen Kampfes und erst recht nach seiner Niederlage setzt der IS auf Propaganda in den sozialen Netzwerken, um damit Einzeltäter zu inspirieren, Selbstmordattentate zu begehen. Eine Messerattacke braucht keine Vorbereitung, keine Planung und Organisation. Bei der Tatwaffe in Lugano soll sogar noch das Preisschild am Messer geklebt haben. Dennoch ist die Wirkung riesig. Jede psychisch Kranke und jeder Kleinkriminelle kann so zum Held und Märtyrer werden. Und der IS kann jedes Attentat als eigenen Erfolg feiern. Das macht es aber auch unendlich schwer, diese Taten zu bekämpfen und zu verhindern. Selbstradikalisierte Täter haben nach psychologischen Studien vergleichbare Störungen wie unpolitisch motivierte Amokläufer. Organisierte TerroristInnen sind hingegen in der Regel nicht psychisch krank.
Wie findet aber die Radikalisierung statt? Die Forschung vergleicht hier meistens Biographien von JihadistInnen. Diese sind durchausverschieden, es gibt aber auch Muster. Viele sind nicht aus religiösem Umfeld, etliche hatten eine kleinkriminelle Vergangenheit, teilweise auch Drogenprobleme. Bei vielen spielt die Erfahrung oder das Gefühl von Diskriminierung und Ausgrenzung eine Rolle. Stigmatisierung ist aber kein kausaler Faktor: Nicht jeder, der Diskriminierung erlebt, wird Islamist. Nicht jede wahrgenommene Diskriminierung ist auch wirklich eine. Dennoch spielt dies in der Propaganda und der Rekrutierung eine grosse Rolle. Islamisten vermitteln den Jugendlichen, dass Muslime in der Gesellschaft und auch weltweit verfolgt und diskriminiert werden. Bei den islamistischen Gruppen erleben die Jugendlichen hingegen ein Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühl, das vielen gefehlt hat. Umstritten ist der Stellenwert des Islams selber. Der französische Politologe Gilles Keppel vertritt die These, dass sich der Islam radikalisiert hat. Der ebenfalls französische Forscher Olivier Roy hingegen meint, dass es eine Islamisierung der Radikalität gegeben hat. Die Täter hätten oft wenig religiöses Wissen, sondern sich eher eine krude Religion und Ideologie zusammengebastelt. Die Religion werde eher dazu benutzt, der eigenen Delinquenz einen höheren Sinn zu geben. Für beide Thesen gibt es glaubwürdige Hinweise, aber es braucht in diesem Bereich auch noch mehr Forschung.
Was Hoffnung macht: Radikalisierung ist nicht ein gradliniger Prozess. Es gibt Wege, diesen Prozess zu stoppen, selbst fast am Schluss. Der Prävention kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu, wie dies auch der in diesem Bereich tätige Ahmed Mansour (der die Linke auch immer wieder kritisiert) schreibt: «Es muss sichergestellt werden, dass radikalisierte Jugendliche keine Sicherheitsbedrohung für die Menschen in diesem Land darstellen; viel pragmatischer wäre es aber, die Jugendlichen vor der Radikalisierung zu schützen.»
Es ist richtig, dass die Linke sich diesem Thema stellt. Mit aller Selbstkritik. Aber auch mit eigenen Rezepten. Dabei kann meines Erachtens, wie in der Drogenpolitik, nicht allein auf Repression gesetzt werden. Soziale und präventive Aspekte spielen eine zentrale Rolle. Sie kommen trotz allem in der Diskussion und wohl auch in der Alimentierung der Mittel zu kurz. Es ist auch unsere Aufgabe, sie ins Zentrum zu stellen. Mit Schweigen helfen wir hier nicht. Mit Schreien aber auch nicht.