Wo WählerInnen wandern

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Die elektorale Zukunft der sozialdemokratischen Parteien war schon oft Thema dieser Kolumne. Jetzt haben die PolitikwissenschaftlerInnen Silja Häusermann und Herbert Kitschelt und weitere AutorInnen drei Papiere für die deutsche Friedrich-­Ebert-Stiftung zum Thema beigesteuert. Sie zeigen darin auf, was mögliche Gründe für die Wählerverluste von sozialdemokratischen Parteien in Europa sind, wohin die Wählerinnen und Wähler gewandert sind und welche strategischen Optionen für die Sozialdemokratie bestehen, diese Wählerinnen und Wähler allenfalls wieder zurückzugewinnen.   

 

Wählerinnen und Wähler verloren die sozialdemokratischen Parteien insbesondere an andere linke und ökologische Parteien, aber auch an Parteien in der Mitte oder Mitte-rechts. Praktisch keine Verluste gibt es an rechtspopulistische Parteien. In den Medien und in politischen Kommentaren wird oft das Bild gezeichnet vom Arbeiter (Frauen nicht mitgemeint), der sich von den sozialdemokratischen Parteien ab- und sich rechten Parteien zuwendet. Dieses Bild wird von der Forschung nicht bestätigt. Die sozialdemokratischen Parteien verlieren in erster Linie WählerInnen aus mittleren bis höheren Einkommensklassen. Frustrierte WählerInnen aus der Arbeiterklasse werden eher zu NichtwählerInnen als dass sie rechts wählen. Nicht verwunderlich ist auch, dass jene, die dieses Zerrbild besonders gerne verbreiten (beispielsweise ein ‹SonntagsBlick›-Kolumnist mit Residenz in Berlin-Charlottenburg), selber zur obersten Einkommenskategorie gehören. 

 

Mit welchen Inhalten können sozialdemokratische Parteien punkten? Die ForscherInnen unterscheiden dabei zwischen sozioökonomischen und nicht sozioökonomischen Inhalten. Bei ersteren geht es um Fragen der Verteilung, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bei zweiteren um jene Fragen, die teilweise als kulturell angesehen werden wie beispielsweise Frauenquoten, Migrationspolitik oder aber um die Ökologie. 

 

Breiten Zuspruch erhält die Sozialdemokratie vor allem mit den sozioökonomischen Inhalten wie Kinderbetreuung oder Wohnpolitik. Dabei können diese Inhalte auch sehr links sein, sie sprechen damit WählerInnen bis weit in die Mitte an. Bei den nichtökonomischen Inhalten gibt es Unterschiede. In Deutschland beispielsweise schrecken diese Inhalte teilweise WählerInnen aus der Mitte oder aus klassischen Wählerschichten ab, in Österreich ist dies weniger feststellbar. Dennoch gäbe es ein gewisses Dilemma zwischen dem, was die AutorInnen «Alte Linke» und dem, was sie als «Neue Linke» bezeichnen. Die «Neue Linke» will sowohl die klassischen wie auch die neuen Themen bewirtschaften. Aber dies gefällt nicht allen ihrer WählerInnen. Setzt sie aber nur auf die klassischen Themen, verliert sie einen Teil der WählerInnen an die linke und grüne Konkurrenz. 

 

Wie sollen die sozialdemokratischen Parteien mit diesem Dilemma umgehen? Häusermann und Kitschelt zeigen verschiedene strategische Optionen auf. Dabei kann es zwei unterschiedliche Ziele geben. Zum einen, die verlorenen Stimmen wieder zu gewinnen, oder aber sozialdemokratische Inhalte möglichst effektiv durchsetzen zu können. 

 

Häusermann und Kitschelt identifizieren vier Strategien. Die «Alte Linke» und die «Neue Linke» werden ergänzt durch eine «Mitte-links» und eine linksnationalistische Strategie. Bei der «Alten Linken» erhofft sich die Sozialdemokratie Zugewinne besonders bei postkommunistischen und Linksaussen-Parteien. Allerdings sind hier die Wählerwanderungen wesentlich weniger bedeutend als zwischen den Sozialdemokraten und den grünen Parteien sowie linksliberalen Parteien. Bei der Strategie der «Neuen Linken» geht es darum, die sozioökonomischen Themen zu verbinden mit der Unterstützung von Werten wie Diversität und Toleranz, aber auch einer Offenheit in Migrations- und aussenpolitischen Fragen. Dort gibt es die meisten Überschneidungen mit grünen oder linksliberalen Parteien. 

 

Befragungen zeigen, dass sich deren WählerInnen oft auch vorstellen können, die Sozialdemokraten zu wählen und umgekehrt. Bis anhin ist die Wählerwanderung aber vor allem in die umgekehrte Richtung gelaufen. Die «Mitte-Links»-Strategie setzt auch auf soziale Gerechtigkeit und zu einem gewissen Mass auf Offenheit und Vielfalt, aber in einem viel beschränkteren Ausmass. Hier sollen jene WählerInnen in der Mitte angesprochen werden, die zwischen Mitte-links und Mitte-rechts wechseln – also zum Beispiel zwischen CDU und SPD. Dort ist rein elektoral gemäss Wählerwanderungen das zweitgrösste Potenzial. Die linksnationalistische Strategie hingegen zielt auf jene WählerInnen ab, die rechtspopulistische Parteien wählen und dort durchaus sozioökonomisch eher linke Positionen befürworten. Wie sich aber gezeigt hat, sind die Wählerwanderungen von der Sozialdemokratie nach rechtsaussen sehr gering. Rein elektoral gesehen sind also die beiden Optionen «Neue Linke» und «Mitte-links» die interessantesten. Die Frage ist, welche wirklich erfolgsversprechend ist. Wenn es darum geht, möglichst viele WählerInnen anzusprechen, sind diese vor allem bei den Grünen zu finden. Dadurch wächst aber das Lager nicht unbedingt. Das wäre eher mit der Mitte-links-Option der Fall. Das könnte aber dazu führen, dass die Sozialdemokratie noch mehr Wählerinnen und Wähler nach links und grün verliert und damit ihre Führungsposition im linken Lager verliert. 

 

Interessant sind die empirischen Resultate. Am schlechtesten fährt die Sozialdemokratie, wenn ihr politischer Gegner eine moderate Strategie fährt, sie selber aber nach links geht. Wie in Deutschland, wo Merkel wohl viele sozialdemokratische WählerInnen ansprechen konnte. Besser fährt die Sozialdemokratie, wenn beide Lager auf eine zentristische Strategie setzen. Davon profitiert zudem das linke Lager insgesamt. Für eine Maximierung der eigenen Stimmenzahl ist es am besten, wenn das Umfeld möglichst polarisiert ist. Da gewinnt die Sozialdemokratie am meisten und behält die Vormachtsstellung im linken Lager. Dies zeigte sich in den 1990er-Jahren und Anfang des neuen Jahrtausends beim Erstarken der SVP deutlich, damals war die SP die grösste Gewinnerin im linken Lager. 

 

Was das für die SP-Schweiz heisst und heissen könnte, müsste noch genauer analysiert und diskutiert werden. Klar ist, dass der linksnationalistische Kurs die sicher erfolgloseste Strategie ist. Warum daher Teile der SP und Gewerkschaften sich unbedingt als Totengräber des Rahmenabkommens mit Europa inszenieren wollen, ist vor diesem Hintergrund sowohl inhaltlich wie politstrategisch schleierhaft.